Antrag Nr. 0227/2023:
Gemeinsamer Antrag der SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Verantwortung zeigen für die Kolonialgeschichte Hannovers – Erarbeitung eines gesamtstädtischen dekolonialisierenden Erinnerungskonzeptes

Informationen:

Beratungsverlauf:

Antragsteller(in):

Gemeinsamer Antrag von SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Inhalt der Drucksache:

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Gemeinsamer Antrag der SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Verantwortung zeigen für die Kolonialgeschichte Hannovers – Erarbeitung eines gesamtstädtischen dekolonialisierenden Erinnerungskonzeptes

Antrag

Die Verwaltung wird damit beauftragt, einen Beirat einzurichten, der die Verbindungen der Stadt Hannover zur Kolonialgeschichte und deren bis heute reichende Auswirkungen aufarbeitet, deren Zeichen in der Stadt hinterfragt und Handlungsempfehlungen benennt.

Das Erinnerungskonzept soll die gesamte Hannoversche Stadtgesellschaft in die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Folgen des Kolonialismus einbinden. Dafür gilt es, das Thema in Wissenschaft, Bildung und Kultur fest zu etablieren und würdige Formen des Erinnerns und des stadtweiten Diskurses zu entwickeln.

Dazu ist – spätestens im 1. Halbjahr 2023 – begleitend ein Beirat zu gründen. Das Konzept des Beirates soll auf folgende Punkte eingehen:

a) Perspektivwechsel des postkolonialen Erinnerns und Zusammenlebens durch Partizipation der Zivilgesellschaft, insbesondere der BIPoC-Communities (Black, Indigenous, People of Color), und in Folge Entwicklung würdiger Formen und Orte des Gedenkens.

b) Provenienzforschung sowie ggf. Restitution von Sammlungsgegenständen.

c) Vermittlung von Erkenntnissen der Erforschung des Kolonialismus und seiner Folgen in die Gesellschaft.

d) Entwicklung partizipativer Bildungsangebote zur Aufarbeitung des Kolonialismus, des Postkolonialismus und aktuellen Auswirkungen wie Rassismus und der weltweiten Klimagerechtigkeit für alle Altersgruppen.

e) Ausarbeitung von Möglichkeiten, durch kommunale Maßnahmen zum Abbau kolonialer wie rassistischer Strukturen gemäß der EU-Resolution zu Grundrechten von Menschen afrikanischer Herkunft in Europa von 2019 beizutragen.

Der Beirat tagt in der Regel quartalsweise und ist interdisziplinär sowie möglichst geschlechterparitätisch zu besetzen. Die Zusammensetzung des Beirats ist anhand folgender Kriterien vorzunehmen: Wissenschaftlichkeit, Multiperspektivität, Diversität, Repräsentation von BIPoC-Communities sowie Kompetenzen in den Bereichen Antirassismus, Antidiskriminierung, Inklusion und Beteiligung. Die Zusammensetzung ist den Gremien des Rates zur Beschlussfassung vorzulegen.

Der Beirat und dessen Arbeit sind an die städtische Erinnerungskultur angebunden und werden von dieser kooperativ unterstützt. Zudem wird das Sachgebiet der Antidiskriminierungsstelle und der Stelle für Demokratiestärkung einbezogen. Der Beirat kann bei Bedarf externe Expertise hinzuziehen.

Für ein umfassendes Konzept sind folgende Handlungsfelder einzubeziehen: Wissenschaft und Forschung, Politik, Kunst, Kultur und öffentliche Orte (u.a. Museen, Gedenkstätten, öffentliche Erinnerungsorte, Ehrengräber, Straßen und Plätze) Bildung, internationale Kooperationen und Städtepartnerschaften, sowie Wirtschaft und Umwelt.

Über die Empfehlungen des Beirates und Zwischenergebnisse sind die Ratsgremien regelmäßig, mindestens aber einmal im Jahr, zu informieren. Gleichzeitig erfolgt eine Vorstellung der Ergebnisse in den jeweils betroffenen Stadtbezirksräten, die zudem im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im weiteren Verlauf des Verfahrens beteiligt werden. Die erarbeiteten Handlungsempfehlungen werden dem Rat zur Entscheidung vorgelegt.

Nach zwei Jahren erfolgt ein Bericht zu den Zwischenergebnissen, die eine Empfehlung zur weiterführenden Arbeit enthält.

Sachkosten bzw. Aufwandsentschädigungen sind analog zum Beirat „Wissenschaftliche Betrachtung von namensgebenden Persönlichkeiten“ (DS 1921/2013 N1) bereitzustellen.

Begründung


Hannover hat aufgrund der langjährigen Personalunion mit Großbritannien eine doppelte Kolonialgeschichte. In dem Konzept sollen die kolonialen Kontinuitäten in Hannover und in den ehemaligen deutschen und britischen Kolonien berücksichtigt werden.

Mit der Entwicklung eines Konzeptes erkennt Hannover seine Rolle und historische Verantwortung im Zeitalter des deutschen, britischen und europäischen Kolonialismus und Imperialismus an.

Die Verbindungen der Stadt Hannover nicht nur zum deutschen Kolonialismus sind bislang kaum dargestellt. Dennoch bezeugen bspw. hiesige Namen von Straßen und Plätzen von der geschichtlichen Tragweite der 500 Jahre währenden Kolonialzeit, die sowohl die kolonialisierten als auch die kolonisierenden Gesellschaften stark prägte.

In jüngster Vergangenheit weist die 20 Jahre währende juristische Auseinandersetzung um die Umbenennung des Carl-Peters-Platz in der Südstadt, die in der Benennung des fraglichen Areals in Bertha-von-Suttner-Platz endete, auf die bislang unzureichende Beschäftigung mit kolonialen Kontinuitäten. Die Debatten um das Carl-Peters-Denkmal auf dem Platz belegen, dass diese Auseinandersetzung längst nicht beendet ist.

Auch die enge Gruppierung von Straßennamen im so genannten Afrika-Viertel in Badenstedt legt Zeugnis ab für ein Mental Mapping1 des Kolonialismus in einer deutschen Großstadt. Sie lassen deutlich das damalige Bestreben erkennen, Deutschland als Kolonialmacht wiederaufzubauen. Sie sind Ausdruck eines eurozentrischen Denkens, das bis heute in den kolonial geprägten Strukturen der einstigen Kolonien und in der anhaltenden Vormachtstellung der westlichen Industrieländer fortlebt.

Vor dem Hintergrund der bestehenden, zunehmend rassistisch geprägten Debatten um das Thema Migration und Integration sowie der bestehenden Spaltungen und Benachteiligungen in unserer Gesellschaft muss eine Großstadt wie Hannover hier besondere Verantwortung zeigen.

Erwartet wird, dass der Prozess der Erarbeitung eines gesamtstädtischen dekolonisierenden Erinnerungskonzeptes einen Perspektivwechsel des postkolonialen Erinnerns in die Wege leitet. Hierbei sind der Zivilgesellschaft und insbesondere Initiativen und Einzelpersonen in Hannover, die sich aus einer migrantischen, postmigrantischen, Schwarzen oder PoC Perspektive mit dem Kolonialismus beschäftigen, umfassende Mitspracherechte einzuräumen.

Bei der Umsetzung sollte auch die Expertise des Landesmuseums berücksichtigt werden, denn dort beschäftigt man sich intensiv mit eigenen ethnologischen Sammlung. Zudem sollten nach Möglichkeit auch internationale Wissenschaftler*innen mit dem Forschungsschwerpunkt der Dekolonialisierung und postkoloniale Gesellschaften hinzugezogen werden.

Die Ergebnisse sollen daher dauerhaft in einem der hannoverschen Museen präsentiert werden.

Der Zusammenhang zwischen Klimagerechtigkeit und Kolonialismus soll ebenfalls in den Fokus genommen werden, denn die Folgen des Kolonialismus spiegeln sich heute hier vor Ort auch in den Herausforderungen des Klimawandels wider. Dekolonialisierung muss daher nicht nur rassismus- und machtkritische Perspektiven einnehmen, sondern auch durch eine dekolonisierende Umwelt- und Nachhaltigkeitsstrategie begleitet werden.

Darüber hinaus gehört die Aufarbeitung unserer kolonialen Geschichte grundsätzlich zu den zentralen erinnerungspolitischen Aufgaben unserer Zeit. Das Konzept soll eine kolonialismuskritische Erweiterung bestehender erinnerungskultureller und erinnerungspolitischer Ansätze anstreben.

Anmerkung: (1) kognitive Karte, kartographische Darstellung, die die subjektive Wahrnehmung eines bestimmten Raumausschnittes wiedergibt.