Drucksache Nr. 15-1190/2023 F1:
Antwort der Verwaltung auf die
Anfrage Genitalverstümmelungen im Stadtbezirk
Sitzung des Stadtbezirksrates Ahlem-Badenstedt-Davenstedt am 15.06.2023
TOP 6.1.1.

Inhalt der Drucksache:

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Landeshauptstadt HannoverDrucksachen-Zeichen
An den Stadtbezirksrat Ahlem-Badenstedt-Davenstedt (zur Kenntnis)
 
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15-1190/2023 F1
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Antwort der Verwaltung auf die
Anfrage Genitalverstümmelungen im Stadtbezirk
Sitzung des Stadtbezirksrates Ahlem-Badenstedt-Davenstedt am 15.06.2023
TOP 6.1.1.

In Deutschland leben schätzungsweise 100.000 Mädchen und Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind. Laut Schätzungen der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ sind aufgrund von Zuwanderung und des Festhaltens archaischer Traditionen 2.000 bis 17.000 in Deutschland geborene Mädchen trotz landesweitem Verbot gefährdet, ebenfalls Opfer von Genitalverstümmelungen zu werden. Deutschland gehört damit zu den vier größten Ländern in der europäischen Union, in der die meisten Mädchen und Frauen gefährdet sind. (Quelle: www.deutschlandfunk.de/genitalverstuemmelung-in-deutschland-100.html)

15% der Mädchen sterben an den Folgen der Verstümmelungen oder sind traumatisiert und leiden ihr Leben lang.

Wir fragen die Verwaltung:

1. Wie viele Fälle von im Stadtbezirk lebenden Frauen und Mädchen, die Opfer von Genitalverstümmelungen geworden sind, sind der Verwaltung bekannt und gibt es eine Häufung der Fälle in den letzten 5 Jahren?

2. Gibt es bekannte Fälle von Genitalverstümmelungen, die trotz Verbot seit 2013 im Stadtbezirk durchgeführt worden sind bzw. Fälle in denen im Stadtgebiet lebende Mädchen im Ausland verstümmelt wurden? Wenn ja, wie viele sind es?

3. Was tut die Verwaltung, örtliche Frauenrechtsorganisationen und Schulen um Aufklärung zu leisten und Opfern von Genitalverstümmelung zu helfen oder potenzielle Opfer zu schützen?

Die Verwaltung beantwortet die Anfrage wie folgt:


zu 1.: Der Tatbestand wird unter dem PKS (Polizeiliche Kriminalstatistik) Schlüssel „222040-Verstümmelung weiblicher Genitalien“ erfasst. Bundesweit gab es im Jahr 2022 zwei Fälle, davon keine Tat im angefragten Stadtbezirk. Eine Tendenzentwicklung zu beschreiben ist bei derart niedrigen Fallzahlen nicht angebracht.

zu 2.: Siehe Antwort 1.

zu 3.: Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist eine gravierende Menschenrechtsverletzung. Sie verstößt gegen internationales und nationales Recht. In Deutschland ist FGM strafbar und seit dem Inkrafttreten des 47. Strafrechtsänderungsgesetzes – Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien – am 28. September 2013 als eigener Straftatbestand in § 226 a ins Strafgesetzbuch (StGB) aufgenommen.
Genitalverstümmelung bei Mädchen mit Wohnsitz in Deutschland gilt somit sowohl im Inland als auch im Ausland als Gefährdung des Kindeswohls. Die Jugendämter sind Aufgrund ihres Wächteramtes (vgl. Artikel 6 (2) GG) verpflichtet, das Kindeswohl zu schützen und Minderjährige in ihrer Entwicklung zu fördern (vgl. § 1 SGB VIII).

Demnach wird bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung durch Genitalverstümmelung im Jugendamt unter Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eine Gefährdungseinschätzung gemäß § 8a (1) SGB VIII durchgeführt. Dazu erfolgt ein Informationsaustausch mit allen beteiligten Fachkräften und ggf. unter Hinzuziehen von Fachberatungsstellen. Wenn die Eltern kooperieren und an der Abwendung einer Gefährdung des Mädchens mitwirken, wird gemeinsam mit den sorgeberechtigten Eltern ein Schutzplan aufgestellt, worin Absprachen zum Schutz des Mädchens schriftlich festgehalten werden (z.B. Verzicht auf Verwandtenbesuch im Herkunftsland, kinderärztliche oder -gynäkologische Kontrollen).

Darüber hinaus erfolgt eine Hilfeplanung (vergl. § 36 SGB VIII Mitwirkung, Hilfeplan) mit jeweils passenden Unterstützungsangeboten für die Eltern, Geschwister und die unmittelbar betroffenen Mädchen. Hierbei kann es sich z.B. um Beratungsstellen und / oder Hilfen zur Erziehung (HzE) handeln (vgl. §§ 27 ff SGB VIII).

Wenn die Gefährdungseinschätzung gemäß § 8a (1) SGB VIII jedoch einen erheblichen Schutzbedarf aufgrund einer akuten Gefährdungslage ergibt, weil die sorgeberechtigten Eltern entweder nicht gewillt oder in der Lage sind, den Schutz des Mädchens zu gewährleisten, muss durch das Jugendamt eine sofortige Inobhutnahme des minderjährigen Mädchens gemäß § 42 SGB VIII erfolgen und ggf. ein Antrag beim Familiengericht gemäß § 1666 BGB gestellt werden, damit dieses den Schutz des Mädchens gewährleistet, entweder durch Auflagen wie


· Anordnung von Grenzsperren für die Mädchen sowie

· Hinterlegung ihrer Reisepässe,

· Auflagen zur Überprüfung der körperlichen Unversehrtheit

oder

· Entzug der elterlichen Sorge oder von Teilen der elterlichen Sorge, wie z. B. des Aufenthaltsbestimmungsrechtes und der Gesundheitssorge. (vgl. § 8a SGB VIII; § 1666 und §1631 BGB).


Außerdem bietet die Fachberatung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen der Landeshauptstadt Hannover die Möglichkeit, Fachkräfte zur Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung zu beraten und Handlungsmöglichkeiten bei Verdacht auch auf das Vorhaben von Eltern, ihre Töchter beschneiden zu lassen, aufzuzeigen.

Darüber hinaus arbeitet die Verwaltung eng mit spezialisierten Einrichtungen zusammen und leistet gemeinsame Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit. Ein Beispiel ist der Fachtag zur weiblichen Genitalverstümmelung am 06.02.2023 gemeinsam mit baobab – zusammensein e.V., welche Fachkräfte in der Arbeit mit Kindern und Familien im Stadtgebiet als Zielgruppe hatte.

baobab – zusammensein e.V. als HAIP Mitglied leistet im Rahmen verschiedener Projekte Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit zum Thema weibliche Genitalverstümmelung im Bereich der Jugendhilfe, Schule und anderer öffentlicher Einrichtungen wie der Landesaufnahmebehörde. Die Angebote bestehen aus gesundheitlicher Begleitung, Beratung und Netzwerkbildung und Bestärkung innerhalb der Community. Zudem werden im Rahmen von Aufklärungsseminaren Handlungsempfehlungen im Umgang mit von weiblicher Genitalverstümmelung betroffenen und gefährdeten Mädchen und Frauen zur Sicherung des Kindeswohles an Fachkräfte herangetragen.