Informationsdrucksache Nr. 1160/2019:
Provenienzforschung zu städtischem Buchbesitz im Stadtarchiv und der Stadtbibliothek Hannover

Inhalt der Drucksache:

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1160/2019
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Provenienzforschung zu städtischem Buchbesitz im Stadtarchiv und der Stadtbibliothek Hannover

Warum Provenienzforschung zu Büchern?

Mit den Drucksachen 1980/2013, 1652/2015 und 2142/2016 hat die Kulturverwaltung regelmäßig über den Stand der städtischen Provenienzforschung informiert. Grundlage der Arbeit sind die Washingtoner Prinzipien(1998) in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten geraubt wurden und die Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz(1999). In der letzten Drucksache 2142/2016 wurde bereits angekündigt, dass die städtische Provenienzforschung plant, sich zukünftig verstärkt mit dem städtischen Buchbesitz aus dem ehemaligen NSDAP-Gauarchiv Südhannover-Braunschweig zu befassen. Mit dieser Drucksache werden nun erstmals die bisherigen Ergebnisse der Provenienzforschung zum städtischen Buchbesitz in der Stadtbibliothek und im Stadtarchiv zusammenfassend präsentiert.

Ebenso wie Kunstgegenstände wurden auch Bücher von den Nationalsozialisten systematisch und massenhaft geraubt. Da es sich bei Büchern jedoch anders als bei Kunstobjekten in der Regel nicht um Unikate und somit meist nicht um große materielle Werte handelt, standen Bibliotheksbestände lange Zeit weniger im Fokus der wissenschaftlichen und öffentlichen Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren wird jedoch sowohl in Bibliotheken als auch in der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen, dass in der NS-Zeit geraubte Bücher als Träger von Erinnerungen eine große symbolische Bedeutung haben: Sie sind nicht selten die letzten materiellen Spuren ihrer früheren Besitzer*innen, die vom NS-Regime verfolgt, zur Flucht gezwungen oder ermordet wurden. Somit leistet die Provenienzforschung, wenn sie anhand von herkunftsanzeigenden Spuren wie z.B. Namenseinträgen, Exlibris oder Stempeln in Büchern verfolgte Personen identifizieren und durch weitere Recherchen Einzelheiten ihrer Biografie und individuellen NS-Verfolgungsgeschichte ermitteln kann, einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit.

Die am 1.7.2016 eingerichtete Vollzeit-Stelle eines Historikers für Provenienzforschung in den Museen für Kulturgeschichte (Museum August Kestner, Historisches Museum, Museum Schloss Herrenhausen) und im Stadtarchiv erforscht seit September 2016 systematisch die so genannte „Sammlung Lauenstein“ von insgesamt 1504 Büchern und Broschüren im Stadtarchiv aus dem ehemaligen NSDAP-Gauarchiv Südhannover-Braunschweig.

In der Stadtbibliothek ist seit dem 1.8.2017 eine Historikerin in Vollzeit mit der NS-Raubgut-Forschung betraut. Die Projektstelle ist auf zwei Jahre befristet. Sie wird zu 100 % aus Mitteln des Bundes finanziert, die die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste bewirtschaftet. Über die Arbeit am Bestand der Stadtbibliothek wurde bereits in der Sitzung des Kulturausschusses vom 15.6.2018 mündlich kurz berichtet.

Aufgaben der Provenienzforschung zum städtischen Buchbesitz

Aufgabe der Provenienzforschung zu städtischem Buchbesitz ist es, in der Stadtbibliothek und im Stadtarchiv Hannover vorhandene "NS-verfolgungsbedingt entzogene" Bücher, also NS-Raubgut ausfindig zu machen. Als potentiell verdächtig und daher prüfbedürftig ist dabei grundsätzlich jedes Buch anzusehen, das vor dem 9.5.1945 erschienen ist und das zwischen 1933 und 1945 angeschafft worden oder nach Kriegsende u. a. als antiquarische Erwerbung, als Geschenk oder durch Tausch in die Bestände der jeweiligen Einrichtung gelangt ist. Allein in der Stadtbibliothek Hannover sind dies geschätzt rund 100.000 Zugänge. Im Rahmen der Provenienzforschung werden die verdächtigen Bücher auf Spuren von Vorbesitzer*innen hin überprüft und dokumentiert. Zudem werden die wechselnden Besitzverhältnisse der Bücher sowie die Biografien und die möglichen NS-Verfolgungsgeschichten ihrer früheren Besitzer*innen erforscht und dokumentiert. In Fällen, in denen sich auf Grund dieser Forschungen der NS-Raubgut-Verdacht bestätigt, geht es schließlich darum, die Bücher an deren frühere rechtmäßigen Eigentümer*innen bzw. deren Erb*innen oder Rechtsnachfolger*innen zurückzugeben oder mit diesen eine anderweitige "gerechte und faire Lösung" im Sinne der Washingtoner Prinzipienzu finden.

Bisherige Forschungsergebnisse

Das Hauptaugenmerk der Provenienzforschung im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek liegt gegenwärtig auf der Prüfung von Beständen aus dem ehemaligen NSDAP-Gauarchiv Südhannover-Braunschweig.Vermittelt über das Hauptstaatsarchiv Hannover übernahm die Stadtbibliothek von dort 1946 mehr als 4000 Bände. Mindestens 2687 Bücher und Zeitschriften aus dem NSDAP-Gauarchiv nahm die Stadtbibliothek ungeachtet der hoch NS-Raubgut-verdächtigen Provenienz in ihren Bestand auf. 1504 Bücher und Broschüren lagerte sie unbearbeitet ein und gab diese 1985 an das Stadtarchiv Hannover ab. Ein weiterer Schwerpunkt der derzeitigen Provenienzforschung in der Stadtbibliothek liegt auf der Untersuchung von Büchern, die nach 1945 antiquarisch erworben oder unter Herkunftsangaben wie "alter Bestand" und "Gestapo" in den Stadtbibliotheksbestand aufgenommen wurden.

In der Stadtbibliothek konnten bis dato (Stand 16.4.2019) insgesamt 2640 Bände in Augenschein genommen und auf herkunftsanzeigende Spuren hin untersucht werden. Davon sind 672 Bände auf Grund der Lieferantenangaben und/oder vorhandener relevanter Provenienzspuren als NS-Raubgut-verdächtig einzustufen. Dies entspricht einer Quote von rund 25 %. Von den verdächtigen Bänden tragen 474 Provenienzhinweise, die konkrete Rückschlüsse auf frühere Besitzer*innen zulassen. In 28 Fällen konnte der Raubgut- Verdacht bereits eindeutig bestätigt und die Suche nach den früheren Eigentümer*innen bzw. deren Erb*innen begonnen oder abgeschlossen werden (s. Fallbeispiele in der Anlage). In momentan 392 Fällen sind weitere umfassende Recherchen zur Provenienzklärung erforderlich.

In der Stadtbibliothek gab es seit 2002 Vorarbeiten zur Provenienzforschung im Bestand, die 2014 im Zusammenhang mit einer Stolpersteinverlegung für die Familie Hein in Hannover zu einer Rückgabe eines Buches an die Erb*innen Henni Heins führten (s. Fallbeschreibung in der Anlage).

Das Stadtarchiv Hannover erforscht seit 1999 systematisch die Provenienz der 1504 Bücher und Broschüren aus dem NSDAP-Gauarchiv Südhannover-Braunschweig im Stadtarchiv. Im Mai 2005 erfolgte die erste Katalogisierung und Registrierung von Vorbesitzer*innenspuren. Im Jahre 2006 wurden die Forschungsergebnisse zu Franz Nause, Adam Sewenig, Robert Philippsthal sowie zu den Familien Braunsberg und Bravmann erstmals veröffentlicht (vgl. Karljosef Kreter: Geraubte Bücher im Stadtarchiv Hannover. Die Identifizierung von verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut aus dem „NSDAP-Gauarchiv und -Gaumuseum“, in: Hannoversche Geschichtsblätter Nr. 60, Jg. 2006, S. 105-134). Im Mai 2007 restituierte die Stadt das Buch „Bilder aus der jüdischen Vergangenheit“ des deutschen Judaisten Abraham Sulzbach an die Erb*innen nach Joseph Braunsberg.

Seit September 2016 hat die Stelle für Provenienzforschung in den Museen für Kulturgeschichte und im Stadtarchiv diese Forschungen wieder aufgenommen und intensiviert (vgl. dazu ausführlich die Anlage).

Repräsentative (Verdachts-)Fälle NS-verfolgungsbedingt entzogener Bücher und die entsprechenden Forschungsergebnisse der städtischen Provenienzforschung wurden in der Sonderausstellung „Spuren der NS-Verfolgung. Über Herkunft und Verbleib von Kulturgütern in den Sammlungen der Stadt Hannover“ zwischen Dezember 2018 und April 2019 im Museum August Kestner der Öffentlichkeit präsentiert. Ein Ausstellungsbegleitband ist in Arbeit.

Diese und weitere Forschungsergebnisse der Provenienzforschung im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek zu Fällen NS-verfolgungsbedingt entzogener Bücher werden in der Anlage aufgelistet. Ziel der städtischen Provenienzforschung ist es, im Sinne des 8. Washingtoner Prinzips jeweils „eine gerechte und faire Lösung zu finden“, die den besonderen „Gegebenheiten und Umständen“ des jeweils „spezifischen Falls“ Rechnung trägt.

Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenen Büchern

Aufgrund der Vielzahl der auch künftig noch zu bearbeitenden Fälle haben sich das Stadtarchiv und die Stadtbibliothek Hannover mit dem Fachbereich Recht auf das im folgenden dargestellte Verfahren zum Umgang mit (Verdachts-)Fällen NS-verfolgungsbedingt entzogener Bücher verständigt:

  1. Die Stellen für Provenienzforschung im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek identifizieren (Verdachts-)Fälle NS-verfolgungsbedingt entzogener Bücher.
  2. Die Stellen für Provenienzforschung im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek erforschen und dokumentieren die Geschichte jener Vorbesitzer*innen von Büchern, bei denen ein Verdacht einer NS-Verfolgungsgeschichte besteht. Im Rahmen der Forschung wird auch abgeklärt, welche Erkenntnisse gegebenenfalls bei der Erinnerungskultur vorliegen und ob Stolpersteinverlegungen für die betroffenen Personen oder ihre Familien vorgesehen sind.
  3. In jenen Fällen, in denen sich der Verdacht auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug bestätigt, nehmen die Stellen für Provenienzforschung im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek mit den potentiellen Erb*innen Kontakt auf, um Sicherheit über deren Identität zu gewinnen und um zu erkunden, ob überhaupt Interesse an einer Rückgabe der Bücher besteht.
  4. Mit diesen Informationen geht die Falldokumentation an den Fachbereich Recht um einen gemeinsamen Lösungsvorschlag der Stadtverwaltung auf Grundlage der Washingtoner Prinzipien,der Gemeinsamen Erklärung(1999) und dem bundesdeutschen Wiedergutmachungsrecht zu finden.
  5. Stadtarchiv / Stadtbibliothek informieren das zuständige Dezernat über den jeweiligen Forschungsstand und den Lösungsvorschlag.
  6. Wenn eine Rückgabe erfolgen soll, wird eine solche von Stadtarchiv/Stadtbibliothek organisiert. Die Übergabe erfolgt, je nach Wunsch der Erb*innen, im öffentlichen, halböffentlichen oder nichtöffentlichen Rahmen.

Stadtarchiv und Stadtbibliothek Hannover werden den Rat künftig in Abständen über aktuelle Forschungsergebnisse, erfolgte Rückgaben und/oder gefundene anderweitige Lösungen informieren.

Berücksichtigung von Gender-Aspekten

Die Information betrifft Frauen und Männer gleichermaßen.

Kostentabelle

Es entstehen keine finanziellen Auswirkungen.

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Hannover / 30.04.2019