Informationsdrucksache Nr. 3252/2019:
Verwahrlosung im häuslichen Umfeld älterer Menschen – Ergebnisse einer Vorstudie

Inhalt der Drucksache:

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Verwahrlosung im häuslichen Umfeld älterer Menschen – Ergebnisse einer Vorstudie

Ausgangssituation

In 2012 mehrten sich bei unterschiedlichen Akteursgruppen in der Sozialen Arbeit (Runder Tisch Pflegeberatung der Region, Kommunale Sozialarbeit, Mobile Einzelfallhilfe als Krisenintervention im Fachbereich Senioren der LHH), in Wohnungswirtschaft und Pflege die Stimmen, die über massive Haushaltsdesorganisation bis hin zu Verwahrlosung bei Senior*innen berichteten und oftmals mit ihren Hilfsangeboten an Grenzen stießen. Das war Anlass für LHH und Region, sich intensiver mit der Problematik auseinanderzusetzen, was zunächst zu der Veranstaltung „Wenn der Alltag über den Kopf wächst – zwischen Selbstbestimmung und Dissozialität“ in 2014 führte. Dabei wurde das Phänomen sowohl aus der Betroffenenperspektive als auch aus sozial-psychologischem, pflegerischem und juristischem Blickwinkel betrachtet. Die gut besuchte Veranstaltung machte deutlich, dass die Problemlage zwar bei den unterschiedlichen Fachleuten in unterschiedlicher Häufigkeit und Ausprägung auftritt, aber dennoch alle Akteuren unter starkem Handlungsdruck stehen, unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten besitzen und oftmals aufgrund diverser Faktoren nicht ausreichend handlungsfähig sind, um die Situation der betroffenen Senior*innen zu verbessern.



Die Gründung des Kooperationsnetzwerkes für ein selbstbestimmtes Leben in Dissozialität (KONSD) und dessen Arbeitsergebnisse

Im Nachgang zur Veranstaltung in 2014 gründete sich das Kooperationsnetzwerk für ein selbstbestimmtes Leben in Dissozialität (KONSD), das seither zu Verwahrlosung im häuslichen Umfeld arbeitet. Das Netzwerk versteht sich zum einen als Austauschplattform zum anderen aber auch als Gremium, das praxisrelevante Projekte auf den Weg bringt und dafür Sorge trägt, der Problematik mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und auf die Verbesserung der Situation aller Beteiligten hinzuwirken. Zunächst einigte sich das Netzwerk auf Kriterien, die das Vorliegen einer Verwahrlosung wahrscheinlich erscheinen lassen. Da jede Profession (Soziologie, Soziale Arbeit, Psychologie etc.) Verwahrlosung anders definiert oder auch gar keine Definition davon hat, war es in diesem interdisziplinär besetzten Kreis notwendig, sich auf Kriterien zu verständigen. In einem Abstimmungsprozess mit allen involvierten Einrichtungen und Diensten wurden folgende Kriterien verabschiedet und mit Beispielen aus der Praxis hinterlegt:


§ Große Mengen Müll/Unrat
§ Unbrauchbare Lebensmittel
§ Exkremente und deren eindeutige Spuren in den bewohnten Räumen
§ Stark eingeschränkte Funktionsräume
§ Fehlende Körperhygiene und mangelnde Gesundheitssorge
§ Ungeziefer jeglicher Art
Wenn zwei dieser Kriterien erfüllt sind, ist nicht nur eine Verwahrlosung wahrscheinlich. Mehr noch heißt es dann, intensiv zu beobachten, ob man die häusliche Situation in der Form belassen kann oder ob eine Selbstgefährdung/Fremdgefährdung vorliegt.

Auf dieser gemeinsamen Grundlage setzte das Netzwerk in den vergangenen Jahren folgende Vorhaben um:
- Um Handlungssicherheit zu gewinnen, erarbeitete man gemeinsam eine Broschüre mit dem Titel „Handlungsmöglichkeiten und –grenzen bei Verwahrlosung im häuslichen Umfeld", die in 2016 veröffentlicht wurde. In ihr beschreiben die einzelnen Akteursgruppen unter anderem ihr Selbstverständnis und legen die rechtlichen Grundlagen dar, auf denen ihr Handeln gründet. Darüber hinaus enthält die Handreichung wichtige grundständige Informationen zum Thema.

- Im KONSD finden regelmäßig Fallbesprechungen statt. Es ist beabsichtigt, diese Fälle in einer Systematik zu ordnen und sie Interessierten zu Lernzwecken, aber auch zur Erleichterung der Arbeit zur Verfügung zu stellen.

- LHH und Region organisierten eine zweite Fachtagung in 2016 mit dem Titel „Handlungsmöglichkeiten und –grenzen bei Verwahrlosung im häuslichen Umfeld“. Sie befasste sich mit den Ursachen von Verwahrlosung, den Zugangswegen zu Klient*innen, die oftmals nicht leicht zu finden sind, sowie mit der Selbstsorge der professionell Tätigen. Auch diese Veranstaltung fand großen Zuspruch. Die Sensibilisierung von Multiplikator*innen wurde intensiviert. In 2017 war Dissozialität ein Thema in allen 13 stadtbezirklichen Seniorennetzwerken des KSH, in Fortbildungsgruppen (z.B. Johanniter) und Arbeitsgemeinschaften (z.B. AG zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) und weiteren Netzwerken (z.B. SoVD).


Die Begründung der Vorstudie

Als problematisch für die Akteur*innen des Netzwerkes hat sich immer wieder das Fehlen von verlässlichem Zahlenmaterial herausgestellt. Dadurch konnten die im Netzwerk zusammengetragenen Wahrnehmungen zu den Gründen für Verwahrlosung im Alter statistisch nie final belegt werden. Dies hing insbesondere damit zusammen, dass Verwahrlosung häufig ein „Nebenprodukt“ in Multiproblemkonstellationen ist. So wird bei der statistischen Erfassung von Fällen in den Sozialpsychiatrischen Diensten zwar erhoben welches Krankheitsbild vorlag und mit welchen Interventionen gearbeitet wurde, aber nicht, ob eine Verwahrlosung vorlag oder nicht. Die Polizei wertet Fälle in der Regel mit Blick auf Kriminalität aus und die Pflege wieder anders als die Wohnungswirtschaft.


Vom 01.07.2016 bis 30.06.2017 wurde deshalb in der Mobilen Einzelfallhilfe als Krisenintervention (MobEH), die zugehende Sozialarbeit bei Senior*innen leistet, die sich in einer schwierigen Lebenssituation oder Krise befinden, eine retrospektive Betrachtung aller im genannten Zeitraum bekanntgewordenen und bearbeiteten Verwahrlosungsfälle, insgesamt 40 Einzelfälle, analysiert. Den im Netzwerk aufgestellten Kriterien folgend wurden Fälle, die nur ein Merkmal erfüllten, nicht in die Vorstudie einbezogen.

Neben der fehlenden Datengrundlage sollte die hier vorliegende Studie aber auch für mehr Transparenz in der Sache sorgen. Im Gegensatz zu der Dortmunder Studie, die in den Jahren 2008 bis 2012 186 Fälle von katastrophalen Wohnsituationen analysiert hat, sollte sich die Hannoversche Vorstudie lediglich auf Senior*innen beziehen.

Ergebnisse der Vorstudie – komprimiert dargelegt

Während in der Dortmunder Studie mehr als 2/3 der untersuchten Fälle dem männlichen Geschlecht zuzuordnen waren, verändert sich das Bild im Alter insbesondere in der ältesten Gruppe der 90 bis 99-jährigen derart, dass nur noch weibliche Klienten übrigbleiben (In den Altersgruppen der 70 bis 79-jährigen und der 80 bis 89-jährigen sind mehr Frauen als Männer von Verwahrlosung betroffen). Es liegt also bei der Betrachtung der Geschlechterverteilung eine auffällige Ungleichheit vor.



Es gibt neben psychiatrischen Erkrankungsbildern auch andere Faktoren, die zu einer Verwahrlosung führen können. Die Vorstudie kommt zu dem Ergebnis, dass anders als bei der Dortmunder Studie nicht in jedem Fall eine psychische Erkrankung zu einer Verwahrlosung führt. Bei mehr als einem Drittel der Klient*innen ist ein Pflegegrad festgestellt und in 13 Haushalten ein ambulanter Pflegedienst eingesetzt. Bei 23 Klient*innen liegen Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats vor, worunter Wirbelsäulenerkrankungen, Hüft- und Rückenleiden, Gangunsicherheit und Gehschwäche, Oberschenkelhalsbrüche und Arthrose subsummiert sind. Es steht daher zu vermuten, dass die aufgezählten Gebrechen einen Beitrag zur Haushaltsdesorganisation leisten, weil Aktivitäten wie Müll entsorgen und Wohnung putzen schlichtweg schmerzt bzw. gar nicht möglich ist.

Selbstverständlich spielen aber auch psychiatrische Krankheitsbilder eine Rolle, allen voran die ungezügelte Sammelleidenschaft (Messie-Problematik). Demenzielle Veränderungen sind vermutlich zweithäufigste Ursache von Verwahrlosung, dicht gefolgt von Wahn und Sucht. Schließlich können auch Depressionen Ursache von Verwahrlosung sein.

Armut, Vereinsamung oder „schwierige Beziehungen“ können eine Verwahrlosung begünstigen. Während gutsituierte Senior*innen sich Hilfeleistungen in schwierigen Lebenssituationen oder bei Pflegebedürftigkeit „einkaufen“ können (Haushaltshilfe gegen Geld), ist das im Fall von Armut nicht ohne weiteres möglich. Zwar gibt es auf Antrag auch die Möglichkeit, Leistungen der Mobilen sozialen Hilfsdienste gewährt zu bekommen. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen geprüft werden. Das wiederum bedeutet für die Klient*innen Armut zuzugeben bzw. sich als überfordert zu erkennen zu geben.

Zwar können Netzwerke von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten in schwierigen Lebenssituationen vieles auffangen, Leiden mildern oder praktische Hilfen übernehmen. Mit zunehmendem Alter aber können die Beziehungen ausdünnen. In Einzelfällen hat sich auch gezeigt, dass schwierige, nie geklärte und nicht befriedete familiäre Beziehungen im Alter zu Konsequenzen wie z.B. einer Ablehnung von Unterstützung führen.

Die Studie zeigt auch, dass die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, oft erst durch eine Verschärfung der Lebenssituation (Erhöhung des Drucks z..B. durch Vermieter wg. Androhung der Räumung oder Verschlimmerung der Erkrankung durch Sturz in der Wohnung) entsteht. Für die professionell tätigen Sozialarbeiter*innen der Mobilen Einzelfallhilfe ist zudem die ablehnende Haltung der Klient*innen häufig schwer aufzubrechen. Dabei ist jedoch immer zu berücksichtigen, dass ein bestimmtes Handeln bzw. Unterlassen Konsequenzen für die Klient*innen haben kann. Ein Vermieter wird Geruchsbelästigungen nicht mehr hinnehmen, wenn von anderen Mieter*innen Beschwerden eintreffen. Ebenso wird ein sturzgefährdeter alter Mensch in einer chaotischen, zugestellten Wohnung mit einem Rollator nicht vorankommen und sich so dem Risiko aussetzen, erneut zu stürzen.

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Verwahrlosung ein Prozess ist, der sich über einen längeren Zeitraum zuträgt und verschärft. Zwar gibt es sicherlich punktuelle Ereignisse, die dazu führen können, in der Regel ist der Weg zu einer Verwahrlosung jedoch ein längerer. Wenn psychische oder physische Erkrankungen oder eine Kombination aus beidem vorliegen, kann die Regelung der Alltagsgeschäfte und der Haushaltsdinge schwierig bis unmöglich werden.

Ausblick

Perspektivisch muss neben psychischen und physischen Ursachen für Verwahrlosung auch ein Blick auf soziale Ausgangsproblematiken gelegt werden. Allgemeine Prognosen gehen davon aus, dass immer mehr Menschen von Altersarmut betroffen sein werden. Die damit häufig zusammenhängende Scham führt oftmals zu Isolierung und Vereinsamung. Aus mangelnden sozialen Beziehungen können zudem psychische Problemlagen entstehen, die in Verwahrlosung enden.



Eine Versorgungskette, die zum Beispiel über zugehende Sozialarbeit Entwicklungstendenzen bei älteren Menschen erkennen und Verwahrlosung vorbeugen kann, gibt es zur Zeit noch nicht.

Berücksichtigung von Gender-Aspekten

Die MobEH wird in Krisensituationen ungeachtet des Geschlechts tätig. Wie die Vorstudie zeigt, sind Frauen im Alter überproportional von Verwahrlosung betroffen. Bei Hochaltrigkeit sind alle analysierten Einzelfälle Personen weiblichen Geschlechts. Es ist zu vermuten, dass auch Menschen mit Behinderungen – so sie selbstständig wohnen – von Verwahrlosung betroffen sind. Die Untersuchung dieses Sachverhalts muss einer weiteren Untersuchung vorbehalten sein.

Kostentabelle

Es entstehen keine finanziellen Auswirkungen.




Die Anlage der Drucksache ist dem elektronischen Sitzungsmanagement zu entnehmen. Eine gebundene Version wird voraussichtlich im Februar 2020 verschickt werden.

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Hannover / 04.12.2019