Antrag Nr. 2976/2019:
Antrag von Ratsherrn Braune zur Aussetzung der Impfpflicht

Inhalt der Drucksache:

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Antrag von Ratsherrn Braune zur Aussetzung der Impfpflicht

Antrag

Antrag auf Aussetzung der Impflicht nach dem für die Landeshauptstadt Hannover für Kinder und Mitarbeiter der jeweiligen Einrichtungen.

Begründung

Es gibt zahlreiche Verbände und Vereine die die Entscheidung von Monsieur Spahn kritisieren.
Der deutsche Ethikrat hat sich im Juni 2019 gegen eine allgemeine Impflicht ausgesprochen. „Der Bürger dürfe nicht in seinen intimen Entscheidungen entmündigt werden.“ Zudem besteht bisher bereits eine Impfquote von 95%. Eine Verpflichtung daraus zu gestalten hat selbst im autokratischem China zu keinem höherem Wirkungsgrad geführt. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3930734/ Eher das Gegenteil ist der Fall.
Des Weiteren haben Ärzteverbände bereits Verfassungsklage angedeutet. https://www.individuelle-impfentscheidung.de/pdfs/Rixen/Verfassungsgutachten.pdf . Um die Wichtigkeit und die Brisanz des Themas herauszustellen habe ich die Stellungnahme von Prof. Dr, Rixen hier abgebildet und freue mich diese im Rat vorzutragen. Damit wir alle, auch die die nicht den zeitlichen Rahmen zu Hause finden auf dem gleichen Kenntnisstand sind.
Verfassungsfragen der Masernimpfpflicht:
Ist die Impfpflicht nach dem geplanten Masernschutzgesetz
verfassungswidrig?
Rechtsgutachten erstellt von
Univ.-Prof. Dr. Stephan Rixen,
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht
der Universität Bayreuth 11. Oktober 2019
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse des Gutachtens
1. a) Das Gutachten befasst sich mit der Frage, ob die Impfpflicht, die das geplante Masernschutzgesetz
in der Fassung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorsieht (BRDrucks.
358/19), mit zentralen Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes (GG) vereinbar
ist. Hierbei geht es in erster Linie um geplante Änderungen des Infektionsschutzgesetzes
(IfSchG), mit denen die Impfpflicht umgesetzt wird.
b) Geprüft wird nicht die Verfassungsmäßigkeit des Impfens, sondern die Verfassungsmäßigkeit
der Impfpflicht in der Ausgestaltung, die das geplante Masernschutzgesetz
vorsieht. Die Verfassungsmäßigkeit der Impfpflicht wird im Hinblick auf die Grundrechte
von Kindern und deren Eltern geprüft; hierbei stehen Kinder im KiTa-Alter, also
nicht einwilligungsfähige Minderjährige, im Zentrum. Ferner geht es um die Grundrechte
von Ärztinnen und Ärzten, die in die Umsetzung der Impfpflicht eingebunden sind.
2. a) Das geplante Masernschutzgesetz schafft eine „Impfpflicht“ (so der Begriff, der in der
Gesetzesbegründung ausdrücklich verwendet wird), die in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig
ist. Verletzt werden insbesondere das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
(Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder, das grundrechtlich geschützte Elternrecht
(Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Gleichheitsrechte von Kindern und Eltern (Art. 3
Abs. 1 GG). Es handelt sich um Grundrechte, auf die sich alle Menschen berufen dürfen.
Als Menschenrechte stehen sie allen Menschen unabhängig insbesondere von der Staatsangehörigkeit
zu, also z.B. auch geflüchteten Menschen.
b) Verletzt werden zudem die Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten (Art. 12 Abs. 1
GG) sowie deren Gleichheitsrechte (Art. 3 Abs. 1 GG).
3. a) Das geplante Gesetz kreist um die (Grund-)Pflicht, Impfschutz (soweit keine Immunität
vorliegt und medizinische Kontraindikationen nicht entgegenstehen) „aufzuweisen“,
also sich einer Impfung zu unterziehen, und diese sodann „nachzuweisen“.
b) Die Einhaltung der eng miteinander verkoppelten Pflichten, Impfschutz (bzw. Immunität)
auf- und nachzuweisen, wird durch ein Bündel grundrechtsbeschränkender Folgeeingriffe
(akzessorische Einhaltungspflichten) abgesichert, die beim fehlenden Impf3
nachweis ansetzen. Hierbei geht es insbesondere um ein KiTa-Aufnahmeverbot, das die
KiTa umzusetzen hat, um bußgeldbewehrte und zwangsweise durchsetzbare Nachweispflichten
gegenüber dem Gesundheitsamt sowie bußgeldbewehrte und zwangsweise
durchsetzbare Aufenthaltsverbote, die das Gesundheitsamt aussprechen kann.
c) Die akzessorischen Einhaltungspflichten verstärken den grundrechtsbeschränkenden
Effekt der Pflicht, Impfschutz auf- und nachzuweisen. All diese Pflichten verletzen je für
sich die Grundrechte von Kindern, Eltern sowie von Ärztinnen und Ärzten, die in die
Herstellung des Impfschutzes eingebunden sind. Sie verstärken zugleich die Intensität
des Grundrechtseingriffs, den die Grundpflicht (= Impfschutz aufweisen, also sich impfen
zu lassen) darstellt.
4. a) Die (Grund-)Pflicht, Impfschutz herzustellen („aufzuweisen“), genügt bereits nicht
den allgemeinen rechtstaatlichen und demokratischen Anforderungen, die an ein grundrechtsbeschränkendes
Gesetz zu stellen sind. An diesem Mangel leiden auch die Nachweis-
bzw. die akzessorischen Einhaltungspflichten, die als grundrechtsbeschränkende
Folgeeingriffe den ursprünglichen Grundrechtseingriff verstärken.
b) Unter dem Aspekt des rechtstaatlichen Grundsatzes der Normenbestimmtheit und
Widerspruchsfreiheit ist die Verweisung auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission
(STIKO) verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, weil weder hinreichend
klar wird, auf welche Teile der STIKO-Empfehlungen sich das geplante Gesetz bezieht
noch in welchem Verhältnis der Verweis auf die STIKO-Empfehlungen zu den Empfehlungen
der Sächsischen Impfkommission (SIKO) steht. Hier droht für alle Beteiligten
rechtsstaatlich inakzeptable Verwirrung über das rechtlich Gebotene.
c) Durch den Verweis auf die STIKO-Empfehlungen wird die STIKO, deren demokratische
Legitimation mindestens fragwürdig ist, zum eigentlichen Gesetzgeber, der Umfang
und Inhalt der Impfpflicht festlegt. Die STIKO kann somit Umfang und Inhalt der
Impfpflicht ohne eine inhaltlich effektive Kontrolle durch den Gesetzgeber selbst festlegen,
was mit der grundgesetzlich geforderten demokratischen Verantwortung des Gesetzgebers
nicht vereinbar ist.
5. a) Die Pflicht, Impfschutz auf- und nachzuweisen, genügt überdies nicht der Wesentlichkeitslehre
des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Eingriffe in Grundrechte hinreichend
deutlich im Parlamentsgesetz selbst definiert sein müssen.
b) Das geplante Gesetz gestattet pauschal den Einsatz von derzeit in Deutschland offenbar
ausschließlich verfügbaren Kombinationsimpfstoffen; das sind derzeit MMR- bzw.
MMRV-Kombinationsimpfstoffe (Masern, Mumps, Röteln, Varizellen [Windpocken]).
Da die Verfügbarkeit von (Kombinations-)Impfstoffen wesentlich durch die Unternehmen
der pharmazeutischen Industrie gesteuert wird, wird es durch das Gesetz nicht ausgeschlossen,
dass Unternehmen der pharmazeutischen Industrie künftig entscheiden, dass
sich nur noch die Produktion und der Vertrieb von Kombinationsimpfstoffen lohnt, die
über MMR(V) hinaus noch weitere Infektionskrankheiten erfassen.
c) Damit macht sich das geplante Gesetz stillschweigend von den (in der Gesetzesbegründung
nicht angesprochenen) unternehmerischen Entscheidungen der pharmazeutischen
Industrie abhängig. Da es jederzeit denkbar ist, dass ein Kombinationsimpfstoff
geschaffen wird, der weitere Krankheiten erfasst, schafft das geplante Gesetz stillschweigend
eine dem Grunde nach unbegrenzte Impfpflicht. Diese Ausweitungs- und Entgrenzungstendenz
wird im Gesetzestext nicht einmal im Ansatz kenntlich gemacht, wie überhaupt
die Gesetzesbezeichnung „Masernschutzgesetz“ in die Irre führt, denn mindestens
wird derzeit beim Einsatz von Kombinationsimpfstoff immer noch gegen zwei oder drei
weitere Krankheiten (MMR, MMRV) geimpft – und künftig bei unveränderter Gesetzeslage
ggfs. noch gegen weitere Infektionskrankheiten.
d) Auf die Problematik der „Mitimpfung“ hat auch der Deutsche Ethikrat (Impfen als
Pflicht?, 2019, S. 66) hingewiesen. Auch die Ausschüsse des Bundesrates kritisieren
dies: „Die grundrechtsbeschränkende Wirkung des Gesetzentwurfes wird damit (quasi als
Beifang) zumindest auf die Impfung gegen Mumps und Röteln ausgeweitet, ohne dass
insoweit die Grundrechtsbeschränkung ausdrücklich geregelt wird“ (BR-Drucks.
358/1/19, S. 32, dort auch: „faktische Impfpflicht […] für andere Erkrankungen“).
6. a) Die Pflicht, Impfschutz herzustellen und auch die daran anknüpfenden Nachweis- und
Einhaltungspflichten sind unverhältnismäßig. Diese Pflichten verfolgen allerdings ein
verfassungsrechtlich legitimes Ziel, nämlich drittnützigen Gemeinschaftsschutz („Her5
denimmunität“) – einschließlich des Individualschutzes, der mit der Impfung verbunden
ist – zu verwirklichen. Der Gemeinschaftsschutz bezieht sich auf die gesamte Bevölkerung,
fokussiert hierbei aber auf bestimmte Gruppen von ungeimpften, vulnerablen Menschen
sowie auf Orte, insbesondere Einrichtungen, an bzw. in denen Menschen sich auf
engem Raum aufhalten. Durch die Zuordnung der Impfpflicht zu Orten bzw. zu den
Menschen, die sich dort auf engem Raum aufhalten, sollen die Infektionswege, also die
Transmission des Masernvirus abgebrochen werden.
b) Ob die Fokussierung u.a. auf KiTa-Kinder im verfassungsrechtlichen Sinne „geeignet“
ist, das Gesetzesziel zu erreichen, ist fraglich. „Geeignetheit“ bedeutet im spezifisch verfassungsrechtlichen
Sinne, dass die in Rede stehende Regelung die Erreichung des Gesetzesziels
fördern kann. Dem Gesetzgeber steht ein weiter Einschätzungsspielraum zu,
der vom Bundesverfassungsgericht je nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs,
den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der auf
dem Spiel stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann. Der
Einschätzungsspielraum ist kein „Freifahrtschein“ bzw. keine „Blankoermächtigung“ für
tatsächliche Annahmen ins Blaue hinein. Insoweit mag zweifelhaft erscheinen, ob die
Impfpflicht bei KiTa-Kindern genügend berücksichtigt, dass Impflücken insbesondere
bei nach 1970 geborenen Erwachsenen bestehen, weshalb sich die Frage stellt, wie die
Impfung der Kinder genau zum Schutz der Erwachsenen beiträgt, die sich typischerweise
an anderen Orten als Kinder aufhalten, insbesondere regelmäßig nicht in gerade der Kinderbetreuung
dienenden Einrichtungen. Andererseits ist nicht völlig ausgeschlossen, dass
auch ungeimpfte Erwachsene durch eine Impfpflicht, die auch KiTa-Kinder erfasst, geschützt
werden können. Das reicht für die Geeignetheit im spezifisch verfassungsrechtlichen
Sinne aus.
c) Das Gesetz ist aber nicht erforderlich. „Erforderlichkeit“ im spezifisch verfassungsrechtlichen
Sinne bedeutet, dass kein gleich wirksames, aber weniger einschneidendes
Regelungsinstrument zur Verfügung steht. Hierbei sind die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Kriterien „Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs“, „Möglichkeiten,
sich ein hinreichend sicheres Urteil“ und das Gewicht der in Rede stehenden
Rechtsgüter, insbesondere die Eingriffsintensität zu beachten. Schon angesichts einer
Impfquote von ca. 97,1% bei der Erstimpfung (zum Zeitpunkt der Einschulung), zu der
die Eltern bislang ohne den geplanten Zwang beigetragen haben, stellt sich die Frage, ob
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die Zweitimpfungsquote, die bei ca. 92,8% liegt (Zahlen laut Deutscher Ethikrat), nur
durch das auf Zwang setzende Schutzkonzept des geplanten Masernschutzgesetzes erreicht
werden kann. Die fachlichen Stimmen, etwa auch die Einschätzung des Präsidenten
des Robert Koch-Instituts (RKI), dazu, dass nicht eine Impfpflicht, sondern insbesondere
auch eine optimierte Impfberatung nötig sei, werden vom Gesetzentwurf ignoriert.
Auch die Erfahrungen mit der Impfberatung vor dem KiTa-Besuch inklusive Ladung zur
Beratung durch das Gesundheitsamt (§ 34 Abs. 10a IfSchG) werden ersichtlich nicht berücksichtigt.
d) Nicht erforderlich ist die vom geplanten Gesetz – das insoweit den STIKOEmpfehlungen
folgt – regelhaft angeordnete Durchführung einer Zweitimpfung auch bei
Kindern, die bereits infolge der Erstimpfung eine Immunität gegen Masern aufweisen.
Das Gesetz muss deutlich erkennen lassen, dass die Durchführung einer Zweitimpfung,
die allein drittnützigen Zwecken, also nur dem Schutz anderer Personen dient und dem
betroffenen Kind selbst nicht mehr nutzen kann, nur mit Zustimmung der Eltern erfolgen
darf.
e) Das Gesetz ist auch deshalb nicht erforderlich, weil nicht erkennbar ist, wieso es zur
Erreichung des Gesetzesziels geboten sein soll, die Impfpflicht durch die vom geplanten
Gesetz hingenommene Steuerung der Kombinationsimpfstoffe durch die pharmazeutische
Industrie unbegrenzt auszuweiten.
f) Das Gesetz (die Pflicht, Impfschutz aufzuweisen, die Pflicht, dies nachzuweisen, und
die daran anknüpfenden Einhaltungspflichten) beschränkt das Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit und das Elternrecht schließlich unzumutbar, weil es Kinder wie Eltern
übermäßig belastet. Das gilt – über die insoweit bereits fehlende Erforderlichkeit hinaus
– im Hinblick auf die Indienstnahme bereits durch die Erstimpfung immuner Kinder für
den Schutz anderer Personen durch eine Zweitimpfung, die den bereits immunisierten
Kindern selbst nicht mehr nutzt; sie dieser Belastung auszusetzen, ohne den Eltern insoweit
eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, ist unzumutbar.
g) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Unzumutbarkeit auch
zu bejahen, wenn das gesetzliche Schutzkonzept nicht folgerichtig umgesetzt wurde. Das
ist der Fall, wenn das Schutzkonzept von Ausnahmetatbeständen durchzogen ist bzw.
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durch weitreichende Ausnahmevorschriften geprägt ist, die das Ziel des Gesundheitsschutzes
relativieren, weil trotz gleicher Gefahreinschätzung identischen Gefährdungen
in demselben Gesetz unterschiedliches Gewicht beigemessen wird und somit die Grundrechtsbeschränkungen
nicht schlüssig gleich verteilt werden. Das ist im geplanten Gesetz
insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von KiTa-Kindern und Kindern, die in nichterlaubnispflichtiger
Kindertagespflege betreut werden, der Fall, zumal sich z.T. (zeitweilig)
dieselben Kinder hier wie dort aufhalten. Außerdem werden KiTas und andere Einrichtungen
(etwa Schulen) unterschiedlich streng behandelt, obgleich die Gefährdungssituation
im Wesentlichen vergleichbar ist. Insbesondere Ausnahmen vom KiTa-
Aufnahmeverbot und die unterschiedlichen Fristen zur Vorlage von Impfnachweisen sind
trotz vergleichbarer Lage nicht folgerichtig geregelt.
h) Wird die Ausweitung der Impfpflicht mittels der vom Gesetzgeber an die pharmazeutische
Industrie delegierten Zusammenstellung der Kombinationsimpfstoffe nicht bereits
als nicht erforderlich eingeordnet (dazu oben), dann ist die grenzenlose Ausweitung der
Kombinationsimpfstoffe jedenfalls eine übermäßige und damit unzumutbare Beschränkung
des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit und des Elternrechts.
7. a) Die Gleichheitsrechte von Kindern und Eltern (Art, 3 Abs. 1 GG) werden durch die
nicht folgerichtige Umsetzung des Schutzkonzepts verletzt, weil im Wesentlichen gleiche
Betreuungssituationen von Kindern ungleich behandelt werden, obgleich das zum Gesetzesziel,
Gemeinschaftsschutz („Herdenimmunität“) insbesondere durch die Impfung von
Personen herzustellen, die sich auf engem Raum an einem bestimmten Ort, insbesondere
in einer Einrichtung, aufhalten, nicht gerechtfertigt ist.
b) Die Freizügigkeit der Kinder und Eltern (Art. 11 Abs. 1 GG) wird durch die Aufnahme-
und Aufenthaltsverbote verletzt, die der Umsetzung der verfassungswidrigen Pflicht,
Impfschutz auf- und nachzuweisen, dienen.
c) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1
GG) der Kinder und Eltern wird verletzt, weil die – zudem nicht hinreichend bestimmten
– Pflichten zur Datenübermittlung an das Gesundheitsamt die verfassungswidrige Pflicht,
Impfschutz auf- und nachzuweisen, umsetzen sollen.
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8. a) Die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Ärztinnen und Ärzte, die in die Umsetzung
der Impfpflicht eingebunden sind, wird ebenfalls verletzt. Ärztinnen und Ärzte sind im
Rahmen des Behandlungsverhältnisses regelmäßig verpflichtet, die Impfung der Kinder
vorzunehmen, was die Eltern nachweisen müssen, denn ohne Ärztinnen und Ärzte können
sie die Impfung nicht herbeiführen. Damit sind Ärztinnen und Ärzte zugleich gezwungen,
entgegen ihren medizinischen Ansichten, soweit sie mit den STIKOEmpfehlungen
nicht übereinstimmen, zu beraten und aufzuklären. Dieser Beschränkung
der Berufsfreiheit ist unzumutbar, weil sie die Ärztinnen und Ärzte zwingt, verfassungswidrige
Grundrechtsbeschränkungen der Kinder und Eltern zu ermöglichen.
b) Das geplante Gesetz verletzt auch die Gleichheitsrechte (Art. 3 Abs. 1 GG) der Ärztinnen
und Ärzte. Ärztinnen und Ärzte müssen ohne sachlich gerechtfertigten Grund die
STIKO-Empfehlungen anstelle der SIKO-Empfehlungen bzw. der fachlichen Einschätzungen,
die den SIKO-Empfehlungen zugrunde liegen, beachten. Das gilt insbesondere
für die Angaben zum Alter, zu dem die Erst- und die Zweitimpfung vorgenommen werden
soll. In zugespitzter Weise gilt dies für Ärztinnen und Ärzte, die in Sachsen tätig sind
und durch das IfSchG verpflichtet werden, teils die STIKO-Empfehlungen, teils die
SIKO-Empfehlungen zu beachten.
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Gliederung des Gutachtens
A. Gegenstand, Gang und Grenzen des Gutachtens 13
B. „Impfpflicht“: Die Kinder und Eltern betreffenden Regelungen
des geplanten Masernschutzgesetzes im Überblick 18
I. Zur Verwendung des Begriffs „Impfpflicht“ 18
II. Im Überblick: Sieben Regelungen des Masernschutzgesetzes,
soweit sie insbesondere für Kinder und Eltern relevant sind 20
1. Pflicht zum „Aufweisen“ von Impfschutz gegen Masern
(§ 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 IfSchG-E) 21
2. Pflicht zur Vorlage eines Nachweises gegenüber der KiTa
(§ 20 Abs. 9 Satz 1, Abs. 10 Satz 1 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) 22
3. Kita-Aufnahmeverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 4 IfSchG-E) 24
4. Bußgeldbewehrte Nachweispflicht gegenüber dem Gesundheitsamt
(§ 20 Abs. 12 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 und § 73 Abs. 1a Nr. 7c
und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E) 25
5. Aufforderung (mit vorgeschalteter Ladung zur Beratung)
zur Vervollständigung der Impfung (§ 20 Abs. 12 Satz 2 i.V.m.
Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) 27
6. Bußgeldbewehrtes Aufenthaltsverbot für Kinder und Eltern (§ 20 Abs. 12 Satz 3 und Satz 4 i.V.m. Abs. 13 Abs. 1 IfSchG-E) 28
7. Datenübermittlung an das Gesundheitsamt (§ 20 Abs. 9 Satz 6, Abs. 10 Satz 2 IfSchG-E) 29
8. Zusammenfassende Charakterisierung der sieben Regelungen:
ein Regelungskonzept aus Grundpflicht und akzessorischen Einhaltungspflichten
a) Der Zusammenhang der einzelnen Pflichten:
Grundpflicht (Impfpflicht) und akzessorische Einhaltungspflichten 30
b) Zusammenhang zwischen „Aufweisen“ und „Nachweisen“:
zwei Seiten einer normativen Medaille 32
C. Verfassungsrechtliche Bewertung der Grundrechtseingriffe zulasten der
Kinder und Eltern 35
I. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)
des Kindes 35
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1. Schutzbereich des Grundrechts 35
2. Grundrechtseingriffe 38
a) Pflicht zum „Aufweisen von Impfschutz gegen Masern
(§ 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E) nach Maßgabe der
STIKO-Empfehlungen (Grundpflicht) 38
aa) Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme der Impfung
durch das Kind 38
bb) Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme einer den
STIKO-Empfehlungen entsprechenden Impfung 40
cc) Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme einer Impfung
mit einem Kombinationsimpfstoff und als verkappte
unbegrenzte Impfpflicht 44
b) Akzessorische Einhaltungspflichten (= grundrechtsbeschränkende
Folgeeingriffe), die beim fehlenden Nachweis einer Impfung
anknüpfen 45
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung insb. mit Blick auf die
Impfpflicht (Impfschutz aufweisen, § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E) 47
a) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG
(hinreichend bestimmtes und klares Gesetz) 47
b) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3
(widerspruchsfreies Gesetz) – Die Empfehlungen der SIKO 48
c) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Abs. 2 GG
(demokratisch legitimiertes Gesetz) 51
aa) Die Verweisung auf die STIKO-Empfehlungen: die STIKO
als eigentlicher Gesetzgeber 51
bb) Die Verweisung auf die STIKO-Empfehlungen im Lichte der
Bußgeldandrohung 54
d) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (Wesentlichkeit) –
Kombinationsimpfstoffe 55
e) Verhältnismäßigkeit 57
aa) Kriterien 57
bb) Verfassungsrechtlich legitimes Ziel 58
(1) Drittnütziger Gemeinschaftsschutz (einschl. Individualschutz)
58
(2) Bekämpfung der Seuchengefahr als Variante der Gefahrenvorsorge (Risikovorsorge) 60
cc) Geeignetheit 62
(1) Kriterien, insb. die bei der Abwägung auf dem Spiel
stehenden Rechtsgüter 62
(2) Zweifel an der Geeignetheit, insb. Unsicherheiten
über die Infektionswege 65
dd) Erforderlichkeit 71
(1) Kriterien 71
(2) Durchgreifende Zweifel an der Erforderlichkeit 72
(a) Erst- und Zweitimpfung, insb.: Darf die medizinische Notwendigkeit der Zweitimpfung offen
gelassen werden? 72
(b) Wirkungslosigkeit der Beratung vor Aufnahme
in die KiTa? 76
(c) Fachliche Kritik aus den Reihen des RKI, insb.
durch den RKI-Präsidenten 78
(3) Fehlende Erforderlichkeit insb. mit Blick auf die Steuerung
von Kombinationsimpfstoffen durch die
pharmazeutische Industrie 81
ee) Zumutbarkeit (Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit i.e.S.) 82
(1) Unzumutbare Belastung der Kinder durch eine
medizinisch nicht notwendige Zweitimpfung 82
(2) Unzumutbarkeit mangels folgerichtig
umgesetzten Schutzkonzepts 83
(a) Keine akute Bedrohungssituation – Strengere
Anforderungen an die Zumutbarkeit 83
(b) Nicht folgerichtig normiertes Verhältnis der
KiTas zur Kindertagespflege 85
(c) Nicht folgerichtig normiertes Verhältnis zwischen
KiTas, Schulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen,
u.a. bei Aufnahme- bzw. Aufenthaltsverboten
87
(d) Nicht folgerichtig normierter Dispens
vom KiTa-Aufnahmeverbot 89
(e) Nicht folgerichtig normierte Fristen für die Vorlage
12
von Impfnachweisen 91
(3) Unzumutbarkeit im Hinblick auf die stillschweigende
Ausweitung der Impfpflicht durch Kombinationsimpfstoffe 92
(4) Unzumutbarkeit der Pflichtimpfung auch gegen
Mumps für Mädchen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) 93
II. Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) 95
1. Schutzbereich des Grundrechts 95
2. Grundrechtseingriffe 96
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung, insb. „staatliches Wächteramt“,
Verhältnismäßigkeit 98
III. Freizügigkeit (Art. 11 GG) der Kinder und Eltern 102
1. Schutzbereich 102
2. Grundrechtseingriffe 103
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 104
IV. Recht auf informationelle Selbstbestimmung
(Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) 105
V. Gleichheitsrechte der Kinder und Eltern (Art. 3 Abs. 1 GG) 106
1. Maßstab 106
2. Ungleichbehandlungen 106
3. Rechtfertigung 107
VI. Ergebnis 109
D. Verfassungsrechtliche Bewertung der Grundrechtseingriffe zulasten
der Ärztinnen und Ärzte 110
I. Art. 12 Abs. 1 GG 110
1. Schutzbereich 110
2. Grundrechtseingriffe (§ 20 Abs. 8 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E) 111
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 113
II. Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) 115
1. Maßstab 115
2. Ungleichbehandlung 116
3. Rechtfertigung 117
III. Ergebnis 118
13
A. Gegenstand, Gang und Grenzen des Gutachtens
Das Gutachten befasst sich mit der Frage, ob die „Impfpflicht“, die das geplante Masernschutzgesetz
in der Fassung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung1 vorsieht (zum Begriff
„Impfpflicht“ → Randnummer [Rn.] 21 ff.), mit zentralen Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes
(GG) – insbesondere mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG) und dem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), aber auch der Berufsfreiheit
(Art. 12 Abs. 1 GG) von Ärztinnen und Ärzten sowie den Gleichheitsrechten von Kindern,
Eltern, Ärztinnen und Ärzten (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar ist. Berücksichtigt wird auch
die Stellungnahme der Ausschüsse des Bundesrates zum Gesetzentwurf2, die Stellungnahme
des Bundesrates zum Gesetzentwurf3 sowie die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme
des Bundesrates.4
Zur Vermeidung von Missverständnissen sei gleich zu Beginn betont, dass es nicht um die
Verfassungsmäßigkeit des Impfens, sondern um die Frage geht, ob die Impfpflicht in der
Ausgestaltung des geplanten Masernschutzgesetzes verfassungsgemäß ist.
Die Verfassungsmäßigkeit der Impfpflicht wird im Folgenden insbesondere im Hinblick auf
die Kinder und deren Eltern bestimmt; ferner geht es um Ärztinnen und Ärzte und ihre Einbindung
in die Umsetzung der „Impfpflicht“. Kinder5 im KiTa6-Alter – also nicht einwilligungsfähige
Minderjährige –7 stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen.
1 BR-Drucks. 358/19 v. 09.08.2019, http://dipbt.bundestag.de25.09/dip21/brd/2019/0358-19.pdf [letzter Abruf
am 11.10.2019] = BT-Drucks. 19/13452 v. 23.09.2019, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/134/1913452.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019]. Der Beschluss des Bundeskabinetts erfolgte am 17.07.2019, der Kabinettsentwurf
ist abrufbar unter www.bundesgesundheitsministerium.de/impfpflicht.html [letzter Abruf am 11.10.2019].
2 BR-Drucks. 358/1/19 v. 06.09.2019.
3 BR-Drucks. 358/19 (Beschluss) v. 20.09.2019.
4 BT-Drucks. 19/13826 v. 09.10.2019.
5 Neugeborene sind Kinder bis zum vollendeten 28. Lebenstag, Säugling sind Kinder ab Beginn des 29. Lebenstages
bis zum vollendeten 12. Lebensmonat, Kleinkinder sind Kinder ab Beginn des 2. bis zum vollendeten 3.
Lebensjahr (vgl. die Unterscheidungen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs [EBM], der in der vertragsärztlichen
[„kassenärztlichen“] Versorgung gilt, EBM, I. Allgemeine Bestimmungen, 4.3.5 [Altersgruppen],
www.kbv.de/html/online-ebm.php [letzter Abruf am .2019]). – Kinder sind alle Personen, die noch nicht 14
Jahre alt sind, Jugendliche sind mindestens 14jährige Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind (vgl. § 7 Abs. 1
Nr. 1 und Nr. 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe [SGB VIII]).
6 KiTa = Kindertageseinrichtung (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe
[SGB VIII]). – Beispielhaft zu den Altersunterscheidungen in KiTas (= Kindertageseinrichtungen) § 3 Abs.
2 Satz 1 Kindertagesförderungsgesetz (KitaFöG) Berlin oder Art. 2 Abs. 1 Satz 2 Bayerisches Kinderbildungsund
-betreuungsgesetz (BayKiBiG).
7 Derzeit aktuellster Überblick die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger Valerius RdJB 2018, 243 ff.
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2
3
14
Die Regelungen, die im Folgenden näher betrachtet werden, gehören zu Artikel 1
des geplanten Masernschutzgesetzes, der das Infektionsschutzgesetz (IfSchG) ändert.
Diese geplanten Änderungen des IfSchG werden mit dem Kürzel „IfSchG-E“
kenntlich gemacht, wobei das „-E“ – wie im rechtswissenschaftlichen Diskurs üblich
– für „Entwurf“ steht. Sofern in diesem Gutachten vom „Masernschutzgesetz“
die Rede ist, sind – soweit sich explizit oder aufgrund des Kontextes nichts
anderes ergibt – die geplanten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSchG)
gemeint. Wird nur das Kürzel IfSchG verwendet (ohne den Zusatz „-E“), wird auf
die derzeit geltende Fassung des IfSchG verwiesen.
Zu den Kindertagesstätten8 gehören gemäß § 33 IfSchG bzw. § 33 Satz 2 Nr. 1 IfSchG-E auch
die Kinderhorte, sie sind „Kindertageseinrichtungen, deren Angebot sich überwiegend an
Schulkinder richtet“9, insbesondere an Grundschulkinder.10
Minderjährige Kinder anderen Alters (z.B. der Grundschulpflicht unterliegende Kinder) werden
für die verfassungsrechtliche Bewertung nur in den Blick genommen, sofern dies – etwa
für die Bewertung etwaiger Ungleichbehandlungen – relevant ist.
Unter „Eltern“ werden die personensorgeberechtigten Personen verstanden, also typischerweise
beide sorgeberechtigten Elternteile.11 Für Personen, denen das Sorgerecht alleine zusteht,
gelten die Ausführungen entsprechend.
Was im Sinne des geplanten Masernschutzgesetzes mit „Impfpflicht“ gemeint ist, wird nach-
8 Zu KiTas vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII; Näheres insb. in den §§ 22a-24 SGB VIII sowie in den ergänzenden
Regelungen des Landesrechts; zu den §§ 22 ff. siehe die Kommentierungen von Rixen, in: Luthe/Nellissen
(Hrsg.), juris-Praxiskommentar (jurisPK) SGB VIII, 2. Aufl. 2018, §§ 22-26 SGB VIII.
9 So zum Hort Art. 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Bayerisches Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (BayKiBiG);
s. bspw. auch § 1 Abs. 1 Nr. 3 Hamburger Kinderbetreuungsgesetz (KibeG): „Tageseinrichtungen dienen der
Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern […] nach dem Schuleintritt bis zum vollendeten 14. Lebensjahr
(Hort), […].“ § 2 Abs. 5 Satz 1 Kindertagesförderungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern (KiföG M-V): „In
Horten werden Kinder vom Eintritt in die Schule bis zum Ende des Besuchs der Grundschule gefördert.“ § 2
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Saarländisches Kinderbetreuungs- und -bildungsgesetz (SKBBG): „Tageseinrichtungen für
Kinder sind insbesondere […] Kinderhorte für Kinder im Schulalter, […].“
10 S. etwa § 6 Abs. 1 Satz 1 Bremisches Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege
(Bremisches Tageseinrichtungs- und Kindertagespflegegesetz – BremKTG): „Tageseinrichtungen für
Grundschulkinder sind Horte.“
11 Vgl. § 1626 Abs. 1, § 1626a Abs. 1, § 1629 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).
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15
folgend unter B. I. (→ Rn. 21 ff.) erläutert.
Im Fokus des Gutachtens stehen sieben Regelungen bzw. Regelungskomplexe (vgl. →
Rn. 33) des geplanten Masernschutzgesetzes, die sachlich aufeinander aufbauen und sich in
ihrer Wirkung ergänzen; sie werden im Überblick unter B. II. (→ Rn. 32 ff.) vorgestellt. In
Abschnitt C. (→ Rn. 93 ff.) werden die Regelungen zunächst in freiheitsrechtlicher (dazu
C. I.-IV., → Rn. 93 ff.), sodann in gleichheitsrechtlicher Perspektive (dazu C. V., → Rn. 294
ff.) näher betrachtet.
In Abschnitt D. (→ Rn. 308 ff.) folgen Ausführungen dazu, ob bzw. inwieweit die die Impfpflicht
betreffenden Regelungen des geplanten Masernschutzgesetzes als Eingriff in Grundrechte
von Ärztinnen und Ärzten zu bewerten sind.
Schon hier sei betont, dass diese Grundrechtseingriffe nicht nur Fachärztinnen und Fachärzte
für Kinder- und Jugendmedizin betreffen, sondern jede Ärztin bzw. jeden Arzt, die bzw. der
eine Impfung vornimmt.
Das geplante Masernschutzgesetz will die Befugnis, Impfungen vorzunehmen, auf
„jeden Arzt“ bzw. jede Ärztin erstrecken (vgl. § 20 Abs. 4 Satz 1 IfSchG-E)
Impfungen bei (Klein-)Kindern werden üblicherweise von Fachärztinnen und -ärzten für Kinder-
und Jugendmedizin sowie von Haus- und Allgemeinärztinnen und -ärzten vorgenommen,
so dass es angemessen erscheint, die grundrechtliche Betroffenheit von Ärztinnen und Ärzten
insgesamt exemplarisch anhand der Situation von Fachärztinnen und Fachärzten für Kinderund
Jugendmedizin zu erläutern; insbesondere sie sind gemeint, wenn im Folgenden von
„Ärztinnen“, „Ärzten“, „Ärztin“ oder „Arzt“ die Rede ist.
Zu den thematischen Grenzen des Gutachtens:
- Nur am Rande – soweit dies im Hinblick auf die bezüglich der KiTas auftauchenden Fragen
relevant ist – wird die gemäß § 43 Abs. 1 SGB VIII erlaubnispflichtige Kindertagespflege
durch Tagespflegepersonen thematisiert.12 Da die Tagespflege im Gesetzentwurf als Gemein-
12 Zur Kindertagespflege vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII; Näheres insb. in den §§ 22a-24 SGB VIII sowie in
den ergänzenden Regelungen des Landesrechts; zu den §§ 22 ff. siehe die Kommentierungen von Rixen, in:
Luthe/Nellissen (Hrsg.), juris-Praxiskommentar (jurisPK) SGB VIII, 2. Aufl. 2018, §§ 22-26 SGB VIII.
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schaftseinrichtung gilt (§ 33 Satz 2 Nr. 2 IfSchG-E), besteht aus Sicht der Kinder und Eltern
eine Ähnlichkeit zur Situation in den KiTas, so dass sich, bezogen auf die Kinder und die Eltern,
die auf die Situation in den KiTas bezogene Argumentation im Wesentlichen auf die
Kindertagespflege übertragen lässt.
- Kein Thema des Gutachtens sind Fragen der religiös oder weltanschaulich motivierten bzw.
gewissensbedingten Impfverweigerung. Es handelt sich um ein Thema, das in anderen Ländern
weitaus relevanter ist als in Deutschland, wo es – soweit ersichtlich – keine drängende
Fragestellung ist. Abgesehen davon würde eine Befassung mit dem Thema „Impfverweigerung“
dem Ausgangspunkt dieses Gutachtens widersprechen, dass nicht das Impfen, sondern
die im geplanten Masernschutzgesetz konkret ausgestaltete Impfpflicht im Zentrum der Überlegungen
steht (→ Rn. 2).
Die Gesetzesbegründung spricht – möglicherweise ohne Problembewusstsein bei
der Wortwahl – davon, dass sich Menschen einer Impfung verweigern.13 Das erzeugt
den Fehleindruck, dass das Unterlassen einer Impfung immer ein bewusster
Akt der Weigerung sei. Weil dem nicht so ist, spricht die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) von „vaccine hesitancy“ [Impfzögerlichkeit] und zählt dazu „reluctance
[Widerwillen] or refusal [Ablehnung/Weigerung] to vaccinate despite the
availability of vaccines“.14
- Nicht angesprochen wird ferner die grundrechtliche Betroffenheit (etwa unter dem Aspekt
der Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG) von KiTas in privater (einschließlich kirchlicher)15
Trägerschaft oder von Tagespflegepersonen, die erlaubnispflichtige Kindertagespflege anbieten
(§ 33 Satz 2 Nr. 2 IfSchG-E).
Die Ausschüsse des Bundesrates äußern „wegen der Vielzahl der privatrechtlichen
13 BR-Drucks. 358/19, S. 2 (kursive Hervorhebung hinzugefügt): „Wer sich einer Impfung gegen Masern verweigert,
setzt nicht nur seine eigene Gesundheit einer erheblichen Gefahr aus, sondern erhöht auch das Infektionsrisiko
für andere Personen, die zum Beispiel aufgrund ihres Alters oder besonderer gesundheitlicher Einschränkungen
nicht geimpft werden können.“
14 https://www.who.int/emergencies/ten-threats-to-global-health-in-2019 [letzter Abruf am 11.10.2019].
15 Hier wäre, ggfs. ergänzend zu Art. 12 Abs. 1 GG, an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu denken; s. hierzu BVerfG,
Beschl. v. 17.10.2007 – 2 BvR 1095/05 –, DVBl 2007, 1555, juris, Rn. 59 ff., 72, 78.
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Einrichtungsleitungen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken“16 und verweisen
u.a. auch auf Friktionen zwischen öffentlichem Dienstrecht und persönlicher
Bußgeldhaftung von Bediensteten hin.17
- Ebenfalls nicht angesprochen wird die grundrechtliche Betroffenheit von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die z.B. in KiTas oder anderen von den geplanten Regelungen des Masernschutzgesetzes
erfassten Einrichtungen18 (insbesondere auch des Gesundheitswesens)19
tätig sind. Insbesondere soll hier nicht vertieft werden, ob – wie von der Gesetzesbegründung
behauptet –20 die an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer adressierte Impfpflicht (nach den
geplanten Änderungen des IfSchG) nicht mit den Regelungen des Arbeitsschutzrechts, insbesondere
den Vorgaben der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) konfligiert,
die gerade keine Impfpflicht kennt.21
16 BR-Drucks. 358/1/19, S. 27.
17 BR-Drucks. 358/1/19, S. 29 a.E.
18 Das sind einerseits die Einrichtungen des Gesundheitswesens gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 IfSchG (diese Vorschrift
wird durch das Masernschutzgesetz nicht geändert, sondern besteht schon jetzt) und andererseits die sog.
Gemeinschaftseinrichtungen gemäß § 33 IfSchG-E (insb. Kindertageseinrichtungen und Kinderhorte, Schulen
oder Heime); diese Vorschrift wird überwiegend sprachlich-redaktionell, aber in einer Hinsicht auf inhaltlich
geändert, weil die Kindertagespflege im Sinne des § 43 Abs. 1 SGB VIII nunmehr ausdrücklich zu den Gemeinschaftseinrichtungen
gezählt wird. Ferner ist § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSchG (Einrichtungen zur gemeinschaftlichen
Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern) zu beachten.
19 S. die Auflistung der Einrichtungen des Gesundheitswesens in § 23 Abs. 3 Satz 1 IfSchG, die in § 20 Abs. 8
Satz 1 Nr. 3, Abs. 9 Satz 1 und Satz 4, Abs. 10 Satz 1, Abs. 12 Satz 1 Nr. 3 IfSchG-E in Bezug genommen wird.
20 BR-Drucks. 358/19, S. 2, S. 23, insb. S. 28 (mit Hinweis auf die ArbMedVV).
21 § 6 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 ArbMedVV: „Impfungen sind Bestandteil der arbeitsmedizinischen Vorsorge und
den Beschäftigten anzubieten, soweit das Risiko einer Infektion tätigkeitsbedingt und im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung
erhöht ist. Satz 3 gilt nicht, wenn der oder die Beschäftigte bereits über einen ausreichenden
Immunschutz verfügt.“ Weil es sich um ein Angebot handelt, gilt: „Der oder die Beschäftigte kann das Impfangebot
annehmen oder ablehnen.“ So Nr. 4.2. Abs. 3 Satz 1 AMR (= Arbeitsmedizinische Regel) 6.5 „Impfungen
als Bestandteil der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen“.
20
18
B. „Impfpflicht“: Die Kinder und Eltern betreffenden Regelungen des geplanten Masernschutzgesetzes
im Überblick
I. Zur Verwendung des Begriffs „Impfpflicht“
Die Begründung zum geplanten Masernschutzgesetz verwendet wiederholt die Begriffe
„Impfpflicht“22 bzw. „Masernimpfpflicht“23. Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme
„Impfen als Pflicht?“ vom Juni 2019 zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff
„Impfpflicht“ mehrdeutig ist.24 Bei der Begriffsklärung sind verschiedene Aspekte zu unterscheiden:
25
- Adressaten der Pflicht: Wer soll im Hinblick auf welche Infektionskrankheit (z.B. Masern)
auch gegen seinen Willen oder gegen den Willen derer, die – etwa für Minderjährige – den
Willen bilden (Eltern), geimpft werden? Wie umfassend (generell) oder selektiv (punktuell)
wird der Adressatenkreis definiert? Handelt es sich um eine generelle oder um eine selektive
Impfpflicht? Aus welchem Grund werden wie viele Ausnahmen beim Adressatenkreis – und
damit hinsichtlich der Reichweite der Impfpflicht – zugelassen?
- Verantwortung für die Umsetzung der Impfpflicht: Wer muss (etwa bei nichteinwilligungsfähigen
Kindern) darauf achten, dass die Pflicht zur Impfung umgesetzt wird?
- Einhaltung der Impfpflicht: Wie wird die Einhaltung der Impfpflicht sichergestellt? Welche
– privaten oder staatlichen – Stellen mithilfe welcher Maßnahmen stellen sicher, dass die
Impfpflicht eingehalten wird?
Letztlich geht es bei der Frage nach der Impfpflicht um den Druck, der seitens des Staates
aufgebaut wird, um Eltern zu bewegen, die Impfung z.B. gegen Masern zu veranlassen. Hierbei
ist zu bedenken, dass sich Druck bzw. Zwang in unterschiedlicher Intensität dosieren lässt.
22 BR-Drucks. 358/19, S. 2, S. 25 a.E., S. 30; s. auch S. 2 a.E.: „verpflichtende Impfung“.
23 BR-Drucks. 358/19, S. 12; s. auch S. 25: „Masernimpflicht“, richtig: „Masernimpfpflicht“.
24 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 35, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
25 Hierzu auch Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 36, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
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22
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24
25
19
So kann der drohende Entzug von Rechtsvorteilen (etwa die Verweigerung eines Kita-Platzes
bei fehlender Impfung) in einer konkreten Lebenssituation, in der ohne Kita-Platz die Anforderungen
von Familie und Beruf nicht ausbalanciert werden können, für Eltern Grund genug
sein, eine Impfung zu veranlassen.26 Der absehbare Verlust von Rechtsvorteilen, wie etwa der
Verlust des Rechtsanspruchs auf einen KiTa-Platz,27 kann etwa dadurch bewirkt werden, dass
der Staat kraft Gesetzes – sei es den KiTa-Trägern, sei es staatlichen Behörden – Befugnisse
gewährt, die einzeln oder in der Kumulation den Willen der Eltern, die Impfung nicht oder
nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt vorzunehmen, beugt (→ Rn. 265).
Allgemein gesprochen: Ein Grundrechtseingriff kann auch vorliegen, „wo ein
Grundrecht nur unter Inkaufnahme empfindlicher Nachteile, zum Beispiel dem
Verzicht auf öffentliche Leistungen, ausgeübt werden kann […]“ (Dieter
Grimm)28.
Vor diesem Hintergrund ist der Hinweis in der Gesetzesbegründung, trotz der „Regelungen in
den neuen Absätzen 8 bis 12“ des § 20 IfSchG-E bleibe „die Freiwilligkeit der Impfentscheidung
selbst unberührt“,29 in der Sache mindestens missverständlich, wenn nicht sogar irreführend.
Freiwilligkeit ist kein Alles-oder-Nichts-, sondern ein Mehr-oder-Weniger-Konzept, so
dass es auf die Intensität der durch staatliches Gesetz bewirkten Wissensbeeinflussung bzw. -
beugung ankommt. Außerdem können sich unterschiedliche Regelungen, die Rechtsnachteile
in Aussicht stellen bzw. bewirken, wechselseitig verstärken, so dass in der Summe die Freiheit
bzw. Freiwilligkeit derart beeinträchtigt ist, dass mit Blick auf die konkrete Situation der
Normadressaten – hier: der Eltern – von einer hinreichend freiwilligen bzw. hinreichend
freien Entscheidung nicht mehr gesprochen werden kann. Allein das Fehlen von unmittelbarem
Zwang, mit dem die Impfpflicht direkt durchgesetzt werden kann (→ Rn. 35 ff.),30
26 Hierzu Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 36, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
27 Dazu die Gesetzesbegründung BR-Drucks. 358/19, S. 28: „Dies“ – Verlust des Rechtsanspruchs auf einen
KiTa-Platz oder einen Platz in der Kindertagespflege – „gilt auch im Fall einer Nicht-Wahrnehmung eines Platzes
aufgrund des Aufnahmeverbots […].“
28 Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, KritV (= Kritische Vierteljahresschrift
für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft) 1986, 38 (50).
29 Alle Zitate: BR-Drucks. 358/19, S. 30 (zu § 20 Abs. 14 IfSchG-E); s. auch BR-Drucks. 358/19, S. 2: „Die
Durchführung der Schutzimpfung selbst bleibt […] freiwillig.“
30 BR-Drucks. 358/19, S. 2: „Die Durchführung der Schutzimpfung […] kann nicht durch unmittelbaren Zwang
durchgesetzt werden.“ In diesem Sinne auch BR-Drucks. 358/19, S. 25.
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27
20
schließt nicht aus, dass die Impfpflicht mithilfe indirekteren Drucks bzw. Zwangs durchgesetzt
werden kann.
Schon früh wurde in der Debatte zur Impfpflicht unter dem Grundgesetz auf die
Relevanz auch „indirekte[r] Zwangseingriffe“31 hingewiesen.
Auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist bereits auf Basis des geltenden
IfSchG, wenn es um Schulbesuchsverbote wegen einer Maserninfektion geht, von „faktischindirekte[
m] Impfzwang“32 die Rede. Auch die Effekte, die der bedrohte Entzug des KiTa-
Platzes mit Blick auf die Frage haben kann (→ Rn. 25), ob ein Kind geimpft wird oder nicht,
werden in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung schon jetzt gesehen.33
In grundrechtlicher Hinsicht ist vor diesem Hintergrund zu klären, ob die „Freiwilligkeit“ –
als Synonym für grundrechtliche Freiheit – in noch zumutbarer Weise, also noch verhältnismäßig
reduziert wurde.
Diesen Fragen wird näher nachzugehen sein, wenn geprüft wird, inwieweit die Regelungen in
Grundrechte eingreifen und ob diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden
können (→ Rn. 93 ff.).
II. Im Überblick: Sieben Regelungen des Masernschutzgesetzes, soweit sie insbesondere
für Kinder und Eltern relevant sind
Im Folgenden werden sieben Regelungen des Masernschutzgesetzes, die insbesondere für
Kinder und Eltern relevant sind und die ggfs. (→ Rn. 308 ff.) auch die Grundrechte von Ärztinnen
und Ärzten berühren, im Überblick vorgestellt. Eine eingehende Betrachtung des Rege-
31 E.R. Huber, Öffentlich-rechtliche Fragen der Polio-Impfung mit Lebend-Vaccinen, Rechtsgutachten
(25.11.1961), S. 11 (sub 2.), zitiert nach dem im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover (Nds. 300 Acc.
50/78 Nr. 77) verfügbaren Exemplar. – In diesem Sinne auch Knopp, Die Gesetzgebung über die Schutzimpfung
gegen Kinderlähmung, BAnz. 101 v. 26.05.1962, S. 7.
32 OVG Lüneburg, Urt. v. 03.02.2011 – 13 LC 198/08 –, NdsVBl 2011, 158, juris, Rn. 32. Kritisch zu diesem
Argument BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 – 3 C 16/11 –, BVerwGE 142, 205, juris, Rn. 28; s. auch VG Weimar,
Beschl. v. 14.03.2019 – 8 E 416/19 WE –, juris, Rn. 12 ff.
33 VG Gera, Beschl. v. 16.04.2019 – 6 E 557/19 –, juris, Rn. 41 ff.
28
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30
31
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21
lungsinhalts, der grundrechtsbeeinträchtigenden Wirkung der Regelungen und ihrer (ggfs.
fehlenden) verfassungsrechtlichen Rechtfertigung folgt unter C. I. (→ Rn. 93 ff.).
Wenn von sieben Regelungen die Rede ist, dann werden für die Zwecke der anschaulicheren
Darstellung, Regelungen, die sachlich weitgehend übereinstimmen als ein zusammenhängender
Regelungskomplex dargestellt (vgl. → Rn. 9).
1. Pflicht zum „Aufweisen“ von Impfschutz gegen Masern (§ 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 und
Satz 2 IfSchG-E)
Nach § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E „müssen“ „Personen“, die u.a. in einer KiTa betreut
werden, „einen nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission ausreichenden Impfschutz
gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern aufweisen.“ „Satz 1 gilt auch, wenn
zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung
stehen“ (§ 20 Abs. 8 Satz 2 IfSchG-E).“ Außerdem gilt eine Ausnahmebestimmung
(§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSchG-E): „Satz 1 gilt nicht für Personen, die aufgrund einer medizinischen
Kontraindikation nicht geimpft werden können.“
Der Bundesrat empfiehlt, in § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSchG-E solle klargestellt
werden, dass für die Frage, ob eine medizinische Kontraindikation vorliege, die
diesbezüglichen Angaben in den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission
(STIKO) maßgeblich seien.34 Das müsste dann auch für § 20 Abs. 8 Satz 2
IfSchG-E gelten. (S. auch → Rn. 109)
Die Gesetzesbegründung betont im Hinblick auf § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E:
„Dabei handelt es sich“, so die Gesetzesbegründung, „nicht um eine durch unmittelbaren
Zwang durchsetzbare Pflicht, die Konsequenzen eines nicht ausreichenden
Impfschutzes beziehungsweise einer nicht ausreichenden Immunität ergeben
sich vielmehr aus den Folgeabsätzen.“35 (→ Rn. 27)
34 BR-Drucks. 358/19 (Beschluss), S. 10.
35 BR-Drucks. 358/19, S. 24/25. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
33
34
35
22
D.h., die Gesetzesbegründung schließt nicht aus, dass es sich um eine (Rechts-)Pflicht handelt,
sie kann nur nicht als solche mittels unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden
(→ Rn. 27).
Unmittelbarer Zwang gehört – neben Ersatzvornahme und Zwangsgeld (das ggfs.
zu Ersatzzwangshaft führen kann) – zu den Zwangsmitteln im Verwaltungsrecht.
36 Unmittelbarer Zwang ist insbesondere körperliche Gewalt, also jede unmittelbare
körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen.37
Dass es sich um eine in Grundrechte eingreifende Pflicht handelt, verdeutlicht auch § 20
Abs. 14 IfSchG-E, der ausdrücklich betont, dass § 20 „Absätze 6 bis 12“ IfSchG-E, also auch
Abs. 8, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einschränken (s. auch → Rn. 101).38
2. Pflicht zur Vorlage eines Nachweises gegenüber der KiTa (§ 20 Abs. 9 Satz 1, Abs. 10
Satz 1 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E)
Personen, die bspw. in KiTas betreut werden „sollen“ (bzw. ihre Eltern, vgl. § 20 Abs. 13
Satz 1 IfSchG-E) „haben der Leitung der jeweiligen Einrichtung vor Beginn ihrer Betreuung
[…] folgenden Nachweis vorzulegen“, nämlich eine Impfdokumentation (Impfausweis oder
Impfbescheinigung, § 22 IfSchG-E) darüber, „dass bei ihnen ein Impfschutz gegen Masern
besteht, der den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission entspricht“ (§ 20 Abs. 9 Satz
1 Nr. 1 IfSchG-E) oder Immunität gegen Masern vorliegt oder wegen medizinischer Kontraindikation
nicht geimpft werden kann (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSchG-E).
Die Ausschüsse des Bundesrates weisen darauf hin, dass diese Aufgabe an den
Einrichtungsträger adressiert werden müsste, da die pädagogischen Kräfte, die die
KiTa als Einrichtung des Trägers leiten, für solche Aufgaben nicht die richtigen
36 Vgl. – nur beispielhaft – die §§ 57 ff., insb. § 62 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes (VwVG) NRW, denn
das IfSchG wird grundsätzlich von den Landesbehörden vollzogen (vgl. allg. Art. 83 GG).
37 So etwa § 67 Abs. 2 VwVG NRW; dazu auch – mit zahlreichen Nachweisen zu den einschlägigen Gesetzen –
statt aller Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 11 (262
[Rn. 904]).
38 Die Gesetzesbegründung bestätigt dies, BR-Drucks. 358/19, S. 30 (zu Abs. 14).
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23
Adressaten seien.39 Nur fehlt dem Einrichtungsträger insofern die nötige Kompetenz
in aller Regel ebenfalls.
Die für die Erteilung der Erlaubnis für die Kindertagespflege (§ 43 Abs. 1
SGB VIII zuständige Behörde kann festlegen, dass der Nachweis nach § 20 Abs. 9
Satz 1 IfSchG-E ihr gegenüber erfolgt.
Die für die Umsetzung des IfSchG zuständige Behörde (§ 54 IfSchG) – je nach
landesrechtlicher Ausgestaltung muss das nicht zwingend das Gesundheitsamt
(§ 2 Nr. 14 IfSchG) sein – kann bestimmen, dass vor der Erstaufnahme von Schülern
in die erste Klasse einer allgemeinbildenden Schule der Nachweis nach § 20
Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E dem Gesundheitsamt gegenüber zu erbringen ist.
„Gesundheitsamt“ ist die nach Landesrecht für die Durchführung des IfSchG bestimmte
und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde (so der geltende § 2 Nr. 14
IfSchG).
Die Pflicht nach § 20 Abs. 9 Satz 1, Abs. 13 IfSchG-E gilt nur für Kinder, die ab dem geplanten
Inkrafttreten des Gesetzes am 01.03.2020
Vgl. zum Inkrafttretenszeitpunkt Art. 4 des geplanten Masernschutzgesetzes
eine KiTa besuchen werden. Das ergibt sich im Rückschluss aus § 20 Abs. 10 Satz 1 IfSchGE:
Diese Bestimmung kennt ebenfalls eine Nachweispflicht, bezieht sie aber nur auf die Personen,
„die am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes bereits in Gemeinschaftseinrichtungen
[…] betreut werden“40, wozu auch die KiTas gehören. Allerdings „haben“ die Eltern von
Kindern (vgl. § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E), die am 01.03.2020 bereits in einer KiTa betreut
werden, diesen Nachweis erst bis zum Ablauf des 31.07.2021 „der Leitung der jeweiligen
Einrichtung“ – hier: der KiTa – „vorzulegen“.
39 BR-Drucks. 358/1/19, S. 13 f., 19.
40 BR-Drucks. 358/19, S. 28.
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Neben den geplanten Regelungen des § 20 Abs. 9 Satz 1, Abs. 10 Satz 1 i.V.m. Abs. 13
Satz 1 IfSchG-E soll der geltende § 34 Abs. 10a Satz 1 bis 4 IfSchG unverändert fortbestehen41
(zu dieser Bestimmung siehe auch → Rn. 60, 202 f.). Die Bestimmung lautet:
„1Bei der Erstaufnahme in eine Kindertageseinrichtung haben die Personensorgeberechtigten
gegenüber dieser einen schriftlichen Nachweis darüber zu erbringen,
dass zeitnah vor der Aufnahme eine ärztliche Beratung in Bezug auf einen vollständigen,
altersgemäßen, nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission
ausreichenden Impfschutz des Kindes erfolgt ist. 2Wenn der Nachweis nicht
erbracht wird, benachrichtigt die Leitung der Kindertageseinrichtung das Gesundheitsamt,
in dessen Bezirk sich die Einrichtung befindet, und übermittelt dem Gesundheitsamt
personenbezogene Angaben. 3Das Gesundheitsamt kann die Personensorgeberechtigten
zu einer Beratung laden. 4Weitergehende landesrechtliche
Regelungen bleiben unberührt.
D.h.: Für jedes Kind, das ab dem 01.03.2020 in eine KiTa aufgenommen wird, muss der
Nachweis über eine zeitnah vor Aufnahme in die KiTa erfolgte ärztliche Impfberatung erbracht
werden. Zugleich muss der Nachweis gemäß § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E erfolgen
(Nachweis über Impfung, Immunität oder medizinische Kontraindikation).
3. Kita-Aufnahmeverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 4 IfSchG-E)
Die Leitung der jeweiligen Einrichtung (etwa der KiTa) darf eine Person, die keinen Nachweis
nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E erbringt „und keiner gesetzlichen Schulpflicht unterliegt“,
nicht in der jeweiligen Einrichtung (hier: KiTa) aufnehmen (zum Verlust des Anspruchs
auf einen KiTa-Platz → Rn. 25 f., 265). D.h., das Kind darf in die KiTa nicht aufgenommen
werden, wenn seine Eltern (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) den Nachweis nicht vorlegen.
Dieses von der KiTa-Leitung (oder der Leitung einer anderen Einrichtung gemäß § 33
Satz 2 IfSchG-E) umzusetzende „Aufnahmeverbot“42 (so der in der Gesetzesbegründung ver-
41 Das ergibt sich z.B. aus § 26 Abs. 2 Satz 4 IfSchG-E, der auf § 34 Abs. 10a IfSchG verweist, dazu BR-Drucks.
358/19, S. 34.
42 BR-Drucks. 358/19, S. 28 (zu § 20 Abs. 9 IfSchG-E).
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wendete Ausdruck) gilt nur für Kinder, die ab Inkrafttreten des Gesetzes (01.03.2020) in die
Kita aufgenommen werden sollen.
Ein Aufenthaltsverbot scheidet aus für Personen, die der gesetzlichen Schulpflicht
unterliegen (§ 20 Abs. 9 Satz 4 IfSchG-E).43
Die nach Landesrecht zuständige Behörde (§ 54 IfSchG) – nicht zwingend das Gesundheitsamt
(→ Rn. 42) – „kann allgemeine Ausnahmen zulassen“ (§ 20 Abs. 9 Satz 5 IfSchG-E),
also allgemeine Ausnahmen vom Aufnahmeverbot; was damit gemeint ist, wird im Normtext
nicht ausgeführt (→ Rn. 244). In der Gesetzesbegründung heißt es:
„Dies kommt zum Beispiel in Betracht, wenn der erforderliche Impfschutz wegen
Impfstoffmangels nicht erlangt werden konnte oder eine Aufnahme in eine Einrichtung
unaufschiebbar ist.“44 (S. auch → Rn. 241)
Ein direkt an die KiTa-Leitung (oder die Leitung einer anderen Gemeinschaftseinrichtung)
adressiertes Aufnahmeverbot bzw. Aufnahmebeendigungsgebot für am 01.03.2020 bereits in
KiTas betreute Kinder sieht das geplante Gesetz nicht vor (vgl. § 20 Abs. 10 IfSchG-E).45
4. Bußgeldbewehrte Nachweispflicht gegenüber dem Gesundheitsamt (§ 20 Abs. 12
Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 und § 73 Abs. 1a Nr. 7c und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1
IfSchG-E)
Nachdem das Gesundheitsamt (§ 2 Nr. 14 IfSchG) über die Nichtvorlage des Nachweises
informiert wurde,
Zu den Datenübermittlungspflichten der Einrichtungen, etwa der KiTa,
43 In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrats verweist die Bundesregierung auf § 28 Abs. 2
IfSchG und meint offenbar, der gelte für Aufenthaltsverbote von schulpflichtigen Kindern (BT-Drucks.
19/13826, zu Nr. 10). Das wirft die Frage auf, wieso dann hier eine Ausnahme für schulpflichtige Kinder vorgesehen
wird (und ebenso in § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E). Außerdem übersieht dieser Einwand, dass Maßnahmen
nach § 20 Abs. 8 ff. IfSchG-E als Verhütungsmaßnahmen früher ansetzen als Bekämpfungsmaßnahmen
(§§ 28 ff. IfSchG).
44 BR-Drucks. 358/19, S. 27 (zu § 20 Abs. 9 IfSchG-E). – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
45 BR-Drucks. 358/19, S. 28: „[…] die Personen [können] […] weiterhin in der Einrichtung betreut werden
[…].“
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→ Rn. 67 ff. Allerdings kann das Gesundheitsamt die entsprechenden Informationen
auch durch „stichprobenartige Kontrollen in solchen Einrichtungen“46 erlangen.
müssen die Eltern des Kindes (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) dem Gesundheitsamt „auf Anforderung“
durch das Gesundheitsamt diesem „einen Nachweis nach Abs. 9 Satz 1“ – nämlich
über die erfolgte Impfung (oder die Immunität oder die medizinische Kontraindikation) – vorlegen,
genauer: darüber, „dass bei ihnen ein Impfschutz gegen Masern besteht, der den Empfehlungen
der Ständigen Impfkommission entspricht“ (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E).
Soweit es um den Verweis auf die „Empfehlungen der Ständigen Impfkommission“ geht, entsprechen
sich § 20 Abs. 8 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E.
„Auf Anforderung“ bedeutet, die Gesundheitsämter „können“47 einen Nachweis anfordern,
d.h., sie handeln nach pflichtgemäßem Ermessen.
In der Gesetzesbegründung heißt es (zu § 20 Abs. 12 IfSchG-E):
„Bei der Vorlagepflicht an das Gesundheitsamt handelt es sich um eine durch
Verwaltungsvollstreckungsrecht und insbesondere mit Zwangsgeld durchsetzbare
Pflicht. Zusätzlich oder alternativ kann ein Bußgeld verhängt werden.“48
(→ Rn. 27, 35)
Legen die Eltern vorsätzlich oder fahrlässig (unter Verstoß gegen § 20 Abs. 12 Satz 1 i.V.m.
§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) diesen Nachweis dem Gesundheitsamt „nicht, nicht richtig,
nicht vollständig oder nicht rechtzeitig“ vor, begehen sie eine Ordnungswidrigkeit, die mit
einer Geldbuße (= Bußgeld) bis zu 2.500 Euro geahndet werden kann (§ 73 Abs. 1a Nr. 7c,
Abs. 2 IfSchG-E).
46 BR-Drucks. 358/19, S. 29 (zu § 20 Abs. 12 IfSchG-E).
47 So die Gesetzesbegründung, BR-Drucks. 358/19, S. 29.
48 BR-Drucks. 358/19, S. 29.
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5. Aufforderung (mit vorgeschalteter Ladung zur Beratung) zur Vervollständigung der
Impfung (§ 20 Abs. 12 Satz 2 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E)
Legen die Eltern den Nachweis nicht vor oder ergibt sich aus dem Nachweis, dass der Impfschutz
gegen Masern erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist oder vervollständigt werden
kann, „kann“ (pflichtgemäßes Ermessen)49 das Gesundheitsamt die zur Vorlage verpflichteten
Personen – hier: die Eltern (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) – „zu einer Beratung laden
und hat diese zu einer Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern aufzufordern“ (§ 20
Abs. 12 Satz 2 IfSchG-E). Der Normtext bezieht sich ausdrücklich nur auf die „Vervollständigung
des Impfschutzes“ (nicht die Herbeiführung eines gänzlich fehlenden Impfschutzes,
auf den der fehlende Nachweis hindeuten könnte). Auch die Begründung des Gesetzentwurfs
bezieht die Aufforderung nur auf die „Vervollständigung des Impfschutzes […], wenn ein
solcher Impfschutz fällig ist […].“50
Die Rechtsnatur dieser Maßnahmen ist nicht ganz klar. Da es sich um Maßnahmen
handelt, die (auch) bei Nichtvorlage des Nachweises entgegen einer Anordnung
des Gesundheitsamtes greift, dürfte es sich um Maßnahmen handeln, die –
sollte das Gesundheitsamt die Anordnung, den Nachweis vorzulegen, nicht
zwangsweise durchsetzen – dem Aufenthaltsverbot gemäß § 20 Abs. 12 Satz 3
IfSchG-E vorgeschaltet ist. Insofern wäre „Ladung“ als Einladung zu lesen,51 der
nicht entsprochen werden muss (so dass auch die Aufforderung nicht ausgesprochen
werden kann) mit der Folge, dass das Gesundheitsamt abwarten muss, ob der
Einladung Folge geleistet wird und, falls nein, erst dann ein Aufenthaltsverbot
aussprechen darf, s. auch § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E.
49 Hierzu die Gesetzesbegründung, BR-Drucks. 358/19, S. 29: „hat das Gesundheitsamt die Möglichkeit“.
50 BR-Drucks. 358/19, S. 29.
51 So wird auch die Ladung zur Beratung gemäß § 34 Abs. 10a Satz 3 IfSchG zu verstehen sein, die Gesetzesbegründung
(BT-Drucks. 18/5261, S. 64 a.E.) spricht nicht gegen dieses Verständnis; in der Literatur(zu § 34
Abs. 10a IfSchG) angenommen, dass die Nichtbefolgung der Ladung und/oder der Aufforderung nicht zwangsweise
durchgesetzt werden könne, vgl. Schneider, SGb 2015, 599 (606), s, allerdings den Bußgeldtatbestand
(§ 73 Abs. 1a Nr. 17a IfSchG) bzgl. der Nichtvorlage der Beratungsbescheinigung; zu § 34 Abs. 10a IfSchG
→ Rn. 47, 202 f.
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6. Bußgeldbewehrtes Aufenthaltsverbot für Kinder und Eltern (§ 20 Abs. 12 Satz 3 und
Satz 4 i.V.m. Abs. 13 Abs. 1 IfSchG-E)
Das Gesundheitsamt „kann“ (pflichtgemäßes Ermessen) gegenüber einer Person, die trotz
Aufforderung nach § 20 Abs. 12 Satz 1 und Satz 2 IfSchG-E keinen Nachweis vorlegt, u.a.
das in § 34 Abs. 1 Satz 2 IfSchG genannte Verbot erteilen,52 soweit die Person keiner gesetzlichen
Schul- oder Unterbringungsverpflichtung unterliegt (§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E).
Diese Möglichkeit besteht auch hinsichtlich der Kinder, die sich am 01.03.2020 bereits in
einer KiTa befinden, allerdings erst nach Ablauf des 31.07.2021 (§ 20 Abs. 10 Satz 1 IfSchGE),
wie die Gesetzesbegründung klarstellt.53
In § 34 Abs. 1 Satz 2 IfSchG ist auf der Rechtsfolgenseite, die das Verbot definiert, im Hinblick
auf die „Betreuten“ – hier: die Kinder – die Rede davon,
„dass sie die dem Betrieb der Gemeinschaftseinrichtung dienenden Räume nicht
betreten, Einrichtungen der Gemeinschaftseinrichtung nicht benutzen und an Veranstaltungen
der Gemeinschaftseinrichtung nicht teilnehmen dürfen.“
Das ist ein umfassendes Aufenthaltsverbot für die Kinder, aber auch für die Eltern (§ 20
Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E), da diese den Aufenthalt der Kinder in der Kita (oder einer anderen
Gemeinschaftseinrichtung) praktisch bewirken, indem sie diese – wie in aller Regel – nicht
vor der Tür abgeben, sondern in die KiTa-Räumlichkeiten, meist in den Eingangsbereich,
begleiten und dort verabschieden bzw. beim Abholen dort wieder begrüßen und mit ihnen
sodann die KiTa gemeinsam verlassen (→ Rn. 284).
„Widerspruch und Anfechtungsklage gegen ein vom Gesundheitsamt erteiltes Verbot haben
keine aufschiebende Wirkung“ (§ 20 Abs. 12 Satz 4 IfSchG-E).54 Die Grundregel, dass Widerspruch
und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben,55 wird aufgehoben. D.h., die
52 Der Gesetzentwurf verweist, soweit es um die in Gemeinschaftseinrichtungen (§ 33 Satz 2 IfSchG-E) arbeitenden
Personen geht, auf die umfassenden Tätigkeitsverbote gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 IfSchG-E („keine Lehr-,
Erziehungs-, Pflege-, Aufsichts- oder sonstige Tätigkeiten ausüben, bei denen sie Kontakt zu den dort Betreuten
haben“). Da es im vorliegenden Gutachten nicht um die grundrechtliche Betroffenheit der Personen geht, die in
KiTas oder anderen Gemeinschaftseinrichtungen arbeiten (→ Rn. 20), kann diese Variante hier außen vor bleiben.
53 BR-Drucks. 358/19, S. 28: „Das Gesundheitsamt kann […] nach Absatz 12 weiterverfahren.“
54 Es handelt sich um einen Fall des gesetzlich angeordneten Entfallens der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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„Verbotsverfügung“56 ist vollziehbar.57 Untechnisch gesprochen, wird damit das Verbot unmittelbar
„scharf“ gestellt und verpflichtet die Adressaten der Verfügung sofort zu dem Verhalten,
dass ihnen die Verbotsverfügung aufgibt, nämlich sich nicht in der KiTa aufzuhalten
und auch zu verhindern, dass ihr Kind sich in der KiTa aufhält.
Missachten die Eltern vorsätzlich oder fahrlässig die vollziehbare Anordnung (= Verbotsverfügung)
machen sie sich bußgeldpflichtig; die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße
(= Bußgeld) bis zu 2.500 Euro geahndet werden (§ 73 Abs. 1a Nr. 7d, Abs. 2 IfSchG-E).
7. Datenübermittlung an das Gesundheitsamt (§ 20 Abs. 9 Satz 6, Abs. 10 Satz 2 IfSchGE)
Diese Regelungen gestatten in zwei Konstellationen Datenübermittlungen an das Gesundheitsamt:
- § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSchG-E: Wenn sich aus dem Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchGE
ergibt, dass ein Impfschutz gegen Masern erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist oder
vervollständigt werden kann, hat die Leitung der jeweiligen Einrichtung – etwa die Leitung
der KiTa – unverzüglich das Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die Einrichtung – hier: die
KiTa – befindet, darüber zu benachrichtigen und dem Gesundheitsamt „personenbezogene
Angaben“ zu übermitteln. Welche „personenbezogenen Angaben“ das sind, wird nicht ausdrücklich
benannt. Nach dem Zweck der Bestimmung, ein Tätigwerden des Gesundheitsamts
zu ermöglichen, dürften Angaben zu den Eltern (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E), die den
Nachweis zu erbringen haben, und Angaben zu dem Kind, um das es geht, gemeint sein (jeweils
Vor- und Zuname, Anschrift, Daten zur Erreichbarkeit [Telefonnummer, E-Mail-
Adresse], Angaben zum Inhalt des Nachweises).
- § 20 Abs. 10 Satz 2 IfSchG-E: Diese auf die personenbezogenen Angaben von Kindern und
Eltern bezogenen Datenübermittlungspflicht betrifft auch die Konstellation, dass ein Kind bei
55 § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
56 Hinweis auf die „Verbotsverfügungen“ des Gesundheitsamtes im Gesetzentwurf, BR-Drucks. 358/19, S. 4 und
S. 18.
57 Die Eltern können beim zuständigen Verwaltungsgericht (VG) beantragen, dass das VG die aufschiebende
Wirkung ganz oder teilweise anordnen möge (§ 80 Abs. 5 VwGO).
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Inkrafttreten des Gesetzes am 01.03.2020 bereits in eine KiTa aufgenommen war, allerdings
dass die Datenübermittlungspflicht erst nach Ablauf des 31.07.2021 unverzüglich ins Werk
gesetzt werden darf; zur Frage, was mit „personenbezogenen Angaben“ gemeint ist,
→ Rn. 68.
Die Datenübermittlungspflicht des § 20 Abs. 11 Satz 2 IfSchG-E betrifft nur die
Heime gemäß § 33 Satz 2 Nr. 4 IfSchG-E und die Einrichtungen gemäß § 36
Abs. 1 Nr. 4 IfSchG („Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von
Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern“).
8. Zusammenfassende Charakterisierung der sieben Regelungen: ein Regelungskonzept
aus Grundpflicht und akzessorischen Einhaltungspflichten
Ein zusammenfassender Blick auf die Regelungen ergibt folgendes Bild:
a) Der Zusammenhang der einzelnen Pflichten: Grundpflicht (Impfpflicht) und akzessorische
Einhaltungspflichten
Die Pflicht, die Masernimpfung
– oder Immunität bzw. eine medizinische Kontraindikation (vgl. § 20 Abs. 8
Satz 3 i.V.m. Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSchG-E) –
„auf[zu]weisen“, bildet die Grundlage der in den Abs. 9 bis 12 folgenden Regelungen, sie ist
die – hier so genannte – Grundpflicht, nämlich die Impfpflicht, die gebietet, durch eine Impfung
Impfschutz herbeizuführen, also sich impfen zu lassen. Die Impfpflicht ist selbst eine
(Rechts-)Pflicht (→ Rn. 35 f.) und nicht nur unselbständiger Bestandteil der nachfolgend (in
den Abs. 9 bis 12 normierten) Pflichten (siehe dazu insbesondere § 20 Abs. 14 IfSchG-E).
Abs. 11 bezieht sich nicht auf die Gemeinschaftseinrichtungen gemäß § 33 Satz 2
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IfSchG-E, also u.a. auch nicht auf KiTas; Abs. 11 kann daher vorliegend außer
Betracht bleiben.
Die Absätze 9, 10 und 12 dienen der „Einhaltung“ (so § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) – oder
anders ausgedrückt: der Durchsetzung – der Grundpflicht des § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E,
und zwar durch eine Reihe von zur Grundpflicht (Impfpflicht) akzessorischen – hier so genannten
Einhaltungspflichten, nämlich die Pflichten,
- der KiTa einen Nachweis der Impfung vorzulegen (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E),
- bei Fehlen des Nachweises ein Aufnahmeverbot der KiTa zu dulden (§ 20 Abs. 9 Satz 4
IfSchG-E),
- bei Fehlen des Nachweises (ggfs. nach entsprechendem Hinweis der KiTa kraft Datenübermittlungspflichten,
→ Rn. 67 ff.) eine im Einzelfall angeordnete und ggfs. im Wege der Verwaltungsvollstreckung
zwangsweise (→ Rn. 37, 57 f.) durchgesetzte Pflicht zur Vorlage des
Nachweises beim Gesundheitsamt (§ 20 Abs. 12 Abs. 1, Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) und ggfs.
auch die Verhängung eines Bußgelds (§ 73 Abs. 1a Nr. 7c und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E)
zu dulden,
- bei Missachten der im Einzelfall angeordneten Pflicht zur Vorlage des Nachweises gegenüber
dem Gesundheitsamt oder bei Vorlage eines Nachweises darüber, dass die Impfung erst
später möglich ist oder vervollständigt werden kann, eine Ladung zur Beratung und die Aufforderung,
den Impfschutz zu vervollständigen, zu dulden (§ 20 Abs. 12 Satz 2 IfSchG-E),
- bei Nichtvorlage eines Nachweises an das Gesundheitsamt in Bezug auf die in Rede stehende
KiTa zulasten des Kindes und der Eltern das im Einzelfall angeordnete – sofort vollziehbare
und ggfs. im Wege der Verwaltungsvollstreckung zwangsweise (→ Rn. 37, 57 f.) durchgesetzte
– Aufenthaltsverbot (§ 20 Abs. 12 Satz 3 i.V.m. Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) und ggfs.
auch die Verhängung eines Bußgelds (§ 73 Abs. 1a Nr. 7d, Abs. 2 IfSchG-E) zu dulden.
D.h., die Einhaltungspflichten kreisen um den Begriff des Nachweises, so dass der Zusam-
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menhang von „Aufweisen“ (Grundpflicht, § 20 Abs. 8 IfSchG-E) und „Nachweis“ (zur
Grundpflicht akzessorische Einhaltungspflichten, § 20 Abs. 9 ff. IfSchG-E) genauer betrachtet
werden muss.
b) Zusammenhang zwischen „Aufweisen“ und „Nachweisen“: zwei Seiten einer normativen
Medaille
Zwischen der Pflicht, Impfschutz gegen Masern „auf[zu]weisen“ (§ 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchGE)
und der Pflicht, dieses „Aufweisen“ nachzuweisen (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E), besteht
ein enger, praktisch nicht trennbarer Zusammenhang:
Da Impfschutz gegen Masern sich nicht von selbst einstellt und insbesondere Kinder ihn nicht
selbst herbeiführen können, müssen die Eltern ihn herbeiführen, d.h. sie müssen eine Ärztin
oder einen Arzt aufsuchen, der die Impfung vornimmt. D.h., die Pflicht, einen Zustand des
Impfschutzes „aufzuweisen“, bedeutet, „über einen Impfschutz verfügen“58, sich also in einen
Zustand des Geimpftseins zu verbringen, und das bedeutet nichts anderes, als sich einer Impfung
zu unterziehen.59
In einer rechtlich verlässlichen Weise kann der Impfschutz nur „aufgewiesen“ sein, wenn er
mittels eines von dem/der impfenden Ärztin/Arzt ausgestellten Nachweises (Impfdokumentation,
insb. Impfausweis, § 22 IfSchG-E) dokumentiert ist. Ansonsten würde die bloße Behauptung,
Impfschutz erlangt zu haben („aufzuweisen“), genügen – was aber gerade kein verlässlicher,
aussagekräftiger Nachweis ist. Das bedeutet aber, dass ein Aufweisen ohne Nachweisen
nicht sinnvoll vorstellbar ist. Wo der Nachweis einer Impfung verlangt wird, wird verlangt,
dass die Impfung zuvor erfolgt ist, denn nur dann kann sie nachgewiesen werden. Es
geht, mit anderen Worten, um zwei Seiten einer normativen Medaille. Sie zusammen bilden
das Zentrum des normativen Regelungskonzepts.
58 So (zu § 1 des Gesetzes über die Pockenschutzimpfung v. 18.05.1976, BGBl. I S. 1216), BT-Drucks. 7/4375,
S. 8 (l. Sp. o.). – Dass damit kein Gleichlauf in der Bewertung von Masern und Pocken behauptet werden soll
(→ Rn. 174), sei zur Vermeidung von Missverständnissen betont. Es geht nur um die gesetzessprachliche Aussagekraft
des IfSchG-E, die mit Blick auf andere auf Impfungen bezogene Gesetze geklärt wird.
59 Vgl. die Formulierung in § 1 (Reichs-)Impfgesetz v. 08.04.1874 (RGBl. S. 31, aufgehoben durch § 16 Satz 2
des Gesetzes v. 18.05.1976, BGBl. I S. 1216): „Der Impfung mit Schutzpocken soll unterzogen werden: jedes
Kind […].“ Vgl. auch die Formulierung in § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Pockenschutzimpfung
v. 18.05.1976 (BGBl. I S. 1216, aufgehoben durch Gesetz v. 24.11.1982, BGBl. I S. 1529): „Einer Pockenschutzimpfung
haben sich zu unterziehen: […] Kinder […].“
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Der Begriff des „Nachweises“ hat somit eine Schlüsselstellung im (geplanten) Gesetz. In § 20
Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E bildet er die Brücke zwischen der Grundpflicht (§ 20 Abs. 8 Satz 1
IfSchG-E) und den weiteren – gerade beim Fehlen des Nachweises anknüpfenden – Pflichten:
Neben dem von der KiTa umzusetzenden Aufnahmeverbot stehen – insbesondere durch die
seitens der KiTa zu erfüllenden Datenübermittlungspflichten (→ Rn. 67 ff.) informationell
erst ermöglichten – Einzelfallanordnungen des Gesundheitsamts. Sie sind möglich, wenn die
Pflicht zum Nachweis gegenüber der KiTa (→ Rn. 39 ff.) und die Pflicht zum Nachweis gegenüber
dem Gesundheitsamt (→ Rn. 53 ff.) missachtet werden. Solche Anordnungen des
Gesundheitsamtes sind nicht nur Bedingung für den Einsatz von Instrumenten der Verwaltungsvollstreckung
(insbesondere des unmittelbaren Zwangs → Rn 37), sondern auch für die
Verhängung von Bußgeldern. Immer geht es dabei um den fehlenden Nachweis darüber, dass
ausreichender Impfschutz „aufgewiesen“ ist.
Entscheidend ist, dass in dieser gesetztechnisch unübersichtlichen, ja verschachtelten Weise
der Druck bzw. der Zwang nach und nach erhöht wird, insbesondere sofern das Gesundheitsamt
von seinen Befugnissen Gebrauch macht. Druck bzw. Zwang werden aber auch schon
vorher erzeugt, und zwar in dem Sinne, dass insbesondere die Eltern wissen, was auf sie zukommt,
sollten sie einen Nachweis nicht vorlegen. Schon dieses Wissen um die drohenden
Folgen ist eine freiheitsbeschränkende Vorwirkung der Zwangsbefugnisse nach Art eines
Damokles-Schwerts, das jeder Zeit niedersausen kann.60 Letztlich sollen alle Regelungen, die
gebieten, Rechtsnachteile zu dulden, bewirken, dass der Nachweis über die erfolgte Impfung
vorgelegt wird, und das setzt voraus, dass das Kind, das in die KiTa aufgenommen werden
soll, geimpft wird.
Die „indirekte Beeinträchtigung der Grundrechte durch Abschreckung“ bzw. Einschüchterung
wird als chilling effect bezeichnet.61 Dieser etwa für das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung der Sache schon früh entwickelte Gedanke62
passt auch hier.63
60 Vgl. – unabhängig von der vorliegenden Thematik – zu Vorwirkungen, die Grundrechtseingriffe sein können,
BVerfG, Urt. v. 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 u.a. –, BVerfGE 146, 71, juris, Rn. 109 und insb. Rn. 111: „Die
Regelung ist […] dazu geeignet und auch bewusst darauf angelegt, ihre Wirkungen schon im Vorfeld zu entfalten;
sie bewirkt damit bereits unmittelbar spürbare Rechtsfolgen […].“
61 S. nur Husmann, Demokratiefeindliche Polizeikostenüberwälzung. Grenzen und Gefahren der Haftbarkeit des
Störers, Sicherheit & Recht/Sécurité et Droit 3/2015, 143 (152) mit weit. Nachw.
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Zusammengefasst: Die Bestimmungen des § 20 Abs. 8 bis 13 IfSchG-E zerlegen einen aufeinander
aufbauenden Prozess zunehmenden Zwangs in verschiedene Teilregelungen. Daher
lässt sich der Regelungsmechanismus, den das geplante Gesetz wählt, auf den ersten Blick
nicht leicht verstehen. Bei genauerem Hinsehen fällt aber auf, dass die an KiTa (bzw. einen
anderen Betreiber einer Gemeinschaftseinrichtung) und Gesundheitsamt adressierten Regelungen,
sich das Vorhandensein des Impfschutzes nachweisen zu lassen, die Vornahme der
Impfung – im Sinne ihres nachgewiesenen „Aufweisens“ – voraussetzen. In diesem Sinne
knüpfen die Nachweispflichten sachlich bei der vorgängigen Grundpflicht (→ Rn. 74) des
§ 20 Abs. 8 IfSchG-E an. Jede auf die Durchsetzung des Nachweises gerichtete Einhaltungspflicht
(→ Rn. 76 ff.) knüpft somit mittelbar bei der Grundpflicht („Impfschutz […] aufweisen“,
und zwar durch Herbeiführung der Impfung) und der auf sie bezogenen, sachlich weithin
deckungsgleichen Nachweispflicht an.
Das aber bedeutet: Wie in einem Kartenhaus muss das Gerüst der aufeinander aufbauenden
Regelungen zusammenbrechen, wenn die Grundpflicht – das Fundament – brüchig, also verfassungswidrig
ist. Bei der grundrechtlichen Bewertung der zur Grundpflicht akzessorischen
Einhaltungspflichten muss das berücksichtigt werden (→ Rn. 123 ff.).
Darüber hinaus muss geprüft werden, ob – von der akzessorischen Anknüpfung an die ggfs.
verfassungswidrige Grund- und Nachweispflicht abgesehen – die Einhaltungspflichten aus
weiteren Gründen verfassungswidrig sind.
http://www.unifr.ch/ius/assets/files/chaires/CH_Straf_und_Rechtsphilo/files/PDFs/husmann_demokratiefeindlic
he_polizeikosten-überwälzung_sr_2015_3.pdf [letzter Abruf am 11.10.2019]. – Das Wort „to chill“ (kühlen,
abkühlen) spielt darauf an, dass sich die Handlungsbereitschaft des/der Grundrechtsinhabers/-inhaberin abkühlt,
also er oder sie entmutigt wird.
62 BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. –, BVerfGE 65, 1 (43), juris, Rn. 148: „Wer nicht mit hinreichender
Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner
sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen
vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen
oder zu entscheiden.“ (Kursive Hervorhebungen hinzugefügt)
63 „Das Grundrecht dient dabei über das hinaus, was es unmittelbar gewährleistet, auch dem Schutz vor einem
Einschüchterungseffekt, […]“ (so BVerfG, Beschl. v. 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02 –, BVerfGE 113, 29 (46),
juris, Rn. 83). „Das Grundrecht dient dabei auch dem Schutz vor einem Einschüchterungseffekt, der entstehen
und zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung anderer Grundrechte führen kann, […]“ (BVerfG, Urt. v.
02.03.2006 – 2 BvR 2099/04 –, BVerfGE 115, 166 (188), juris, Rn. 88); jeweils zum Recht auf informationelle
Selbstbestimmung.
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C. Verfassungsrechtliche Bewertung der Grundrechtseingriffe zulasten der Kinder und
Eltern
I. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) des Kindes
1. Schutzbereich des Grundrechts
Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das – selbstverständlich – auch Kindern zusteht,
64 schützt als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, durch die der Körper
oder der Gesundheitszustand eines Menschen beeinträchtigt wird.65 Insofern gewährt Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG Integritätsschutz für alle Menschen, unabhängig ob sie einen rechtserheblichen
Willen bilden oder äußern können. Es handelt sich um ein Menschenrecht, das allen
Menschen – unabhängig von der Staatsangehörigkeit – zusteht, z.B. auch Geflüchteten.
Sofern der Schutz der körperlichen Integrität gegenüber staatlich veranlassten Einwirkungen
an das Erfordernis gebunden wird, dass gegen den Willen der betroffenen Person gehandelt
wird,66 stellt sich die Frage, ob dies nicht richtigerweise ein Aspekt des sog. Grundrechtsverzichts
ist, der den Grundrechtseingriff fortfallen lässt.67 Sofern das Willenselement zum
Grundrechtstatbestand gerechnet wird, ist bei Kindern, sofern sie selbst keinen rechtlich erheblichen
Willen bilden und/oder äußern können (im Sinne einer Einwilligung in medizinische
Maßnahmen), die Einwilligung der Eltern erforderlich. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt
demgemäß auch vor staatlichen Einwirkungen, die ohne oder gegen den elterlichen Willen
erfolgen, der als der Wille des nicht-einwilligungsfähigen Kindes gilt (→ Rn. 103, 260).
64 „Alle in Art. 2 gewährleisteten Grundrechte sind Menschenrechte.“ Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), GG,
Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 39. Sie stehen also allen Menschen unabhängig z.B. von Alter oder Staatsangehörigkeit
zu.
65 BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 –, BVerfGE 149, 293, juris, Rn. 74: „Auch der Schutz vor Beeinträchtigungen
der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit werden von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst
[…].“ S. hierzu etwa auch Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 148,
154.
66 S. dazu etwa Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 148; s. ferner
bspw. BVerfG, Beschl. v. 23.03.2011 – 2 BvR 882/09 –, BVerfGE 128, 282, juris, Rn. 39, 42.
67 Allg. zum Grundrechtsverzicht Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009,
§ 73 Rn. 3 ff., 24 ff., 27 ff.; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl.
2011, § 203 Rn. 3 f.; Rn. 91 ff.
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Schutzgegenstand des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit ist die Integrität der körperlichen
Substanz bzw. des menschlichen Organismus.68 „Eine schädigende Zielrichtung ist
nicht Voraussetzung für das Vorliegen eines Eingriffs in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
[…].“69 Impfstoffe sind „im […] menschlichen Körper“ (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 Arzneimittelgesetz
[AMG]) wirkende Arzneimittel, die zur Erzeugung von spezifischen Abwehrund
Schutzstoffen führen (vgl. § 4 Abs. 4 AMG). Die Masernimpfung führt zu solchen Impfreaktionen,
denn injiziert werden – bei einer Impfung mit einem Kombinationsimpfstoff u.a.
auch – abgeschwächte, lebende Masernviren (sog. attentuierter Lebendimpfstoff). Sie ahmen
die Krankheit (Masern) unter kontrollierten Bedingungen nach, lösen die Krankheit aber nicht
aus, sondern führen dazu, dass der Körper Abwehrstoffe, sog. Antikörper, gegen Masern ausbildet.
70 Bei einem späteren Kontakt mit Masernviren fangen diese Antikörper die Viren
gleichsam ab, und die Person, die geimpft wurde, erkrankt nicht. Typische, regelmäßig nach
wenigen Tagen komplett abklingende Beschwerden nach einer Impfung – als Ausdruck der
erwünschten Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Impfstoff – sind Rötung,
Schwellungen und Schmerzen an der Impfstelle. Ferner sind Allgemeinreaktionen wie Fieber,
Kopf- und Gliederschmerzen sowie Unwohlsein (etwa eine Woche nach der Masernimpfung
auftauchend) möglich. Bei etwa fünf von 100 Geimpften kommt es in den ersten drei Tagen
nach der Impfung durch die Anregung der körpereigenen Abwehr zu einer Rötung oder
Schwellung an der Einstichstelle, die auch schmerzen kann. Gelegentlich schwellen Lymphknoten
in der Nähe ebenfalls an. Auch kurzfristige Allgemeinsymptome wie eine leichte bis
mäßige Temperaturerhöhung, Kopfschmerzen, Mattigkeit oder Magen-Darm-Beschwerden
können auftreten. Bei etwa fünf von 100 Geimpften tritt etwa eine Woche nach der Impfung
ein leichter Hautausschlag mit Fieber auf, dies sind die nicht ansteckenden „Impfmasern“.
Dass die Impfung, also die Zuführung des Impfstoffs, im Körper bzw. dem menschlichen Organismus
zu Reaktionen führt, ist danach offensichtlich.
Die denkbaren unerwünschten Arzneimittelwirkungen (Nebenwirkungen, Impfkomplikationen),
die mit der Verwendung der MMR/MMRV-Impfstoffe
68 Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 148, 154.
69 BVerfG, Beschl. v. 23.03.2011 – 2 BvR 882/09 –, BVerfGE 128, 282, juris, Rn. 40.
70 Hierzu und zum Folgenden RKI-Ratgeber „Masern“,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html [letzter Abruf am
11.10.2019]; BZgA, https://www.impfen-info.de/impfempfehlungen/fuer-kinder-0-12-jahre/masern/ [letzter
Abruf am 11.10.2019]; s. auch Schaks/Krahnert, MedR 2015, 860 ff.; s. auch Wichmann/Ultsch, Bundesgesundheitsblatt
2013, 1260 ff.
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also den Kombinationsimpfstoffen für Masern, Mumps, Röteln und Varizellen
(Windpocken), MMR bzw. MMRV → Rn. 119
einhergehen können, sind mit dem Adjektiv „äußerst nebenwirkungsarm“71 nur unvollkommen
beschrieben. Die Nebenwirkungen der MMR/MMRV-Impfstoffe sind vorrangig den
Reaktionen auf die Masernkomponente zuzuschreiben:72
- Fieber (5-15%), Krankheitsgefühl, Fieberkrampf (1:500), Impfmasern
- Allergische Reaktionen (Urtikaria [= Nesselsucht/Nesselfieber], Asthma, anaphylaktischer
Schock); schwere Reaktion etwa 1: 5000
- die Autoimmunkrankheit idiopathische thrombozytopenische Purpura, eine die Thrombozyten
(Blutplättchen) betreffende Immunkrankheit (1: 20.000-30.000)
- Neurologische Komplikationen (1: 365.000): Sehnerventzündung, Lähmung der Hirnnerven,
Guillain-Barré-Syndrom (GBS, ein spezifisches neurologisches Krankheitsbild), Zerebellitis
(Entzündung des Zerebellums, eines Teils des Gehirns), Enzephalitis (bleibende Hirnschäden
ca. 1: 1,5 Mio).
- In seltenen Fällen kann es, etwa bei stark immungeschwächten Personen, zu Todesfällen
kommen. So hat etwa das Paul Ehrlich Institut vor wenigen Jahren von zwei Todesfällen in
Deutschland berichtet.73
Spezifische Nebenwirkungen gibt es auch nach der Mumps- und Rötelnimpfung, die aus der
Zeit bekannt sind, als es noch Monoimpfstoffe gab und die bei einer Masern-Monoimpfung
nicht auftreten.74 Bei der Mumpsimpfung ist etwa zu denken an Speicheldrüsen-, Bauchspei-
71 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 15, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
72 S. hierzu Mentzer/Meyer/Keller-Stanislawski, Sicherheit und Verträglichkeit von monovalenten Masern- und
kombinierten Masern-, Mumps-, Röteln- und Varizellenimpfstoffen, Bundesgesundheitsblatt 2013, 1253 ff.;
Strebel/Papania et al., Measles Vaccines, in: Plotkin et al. (Hrsg.), Plotkin’s Vaccines, 7. Aufl. 2018, S. 579 ff.
73 Mentzer/Keller-Stanislawski, Daten zur Pharmakovigilanz von Impfstoffen aus dem Jahr 2014, Bulletin zur
Arzneimittelsicherheit – Informationen aus BfArM und PEI, Ausgabe 2/Juni 2016, S, 12 ff.,
http://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/bulletin-einzelartikel/2016-daten-pharmakovigilanz-impfstoffe-
2014.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [letzter Abruf am 11.10.2019]; s. ferner Miller/
Moro/Cano/Shimabukuro, Deaths following vaccination: What does the evidence show?, in: Vaccine 33
(2015), S. 3288-3292, hier: S. 3290: „There are at least six case reports of death among severely immunocompromised
persons that have been linked tovaccine strain measles virus infection […], including a case of vaccine
associated pneumonitisin an immunocompromised person with HIV […] and a case of measles inclusion-body
encephalitis in a 21-month-old child with primary immunodeficiency […].”
74 Näher Rubin, Mumps Vaccines, in: Plotkin et al. (Hrsg.), Plotkin’s Vaccines, 7. Aufl. 2018, S. 663 ff.;
Reef/Plotkin, Rubella Vaccines, in: Plotkin et al. (Hrsg.), Plotkin’s Vaccines, 7. Aufl. 2018, S. 970 ff.
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cheldrüsen- und Hodenentzündungen sowie Innenohrtaubheit, bei der Rötelnimpfung etwa an
akute und chronische Arthritis (Gelenkentzündungen).
Soweit es um die unerwünschten Arzneimittelwirkungen (Nebenwirkungen, Impfkomplikationen)
geht (s. insb. → Rn. 96), handelt es sich um massive Beeinträchtigungen, allerdings bei
regelmäßig sehr hoher Unwahrscheinlichkeit ihres Eintretens, was allerdings über den Eintritt
im Einzelfall – wie bei solchen statistischen Wahrscheinlichkeitsaussagen üblich – nichts aussagt.
Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass international renommierte Fachorganisationen
wie die Cochrane-Collaboration die Sicherheit der Impfstoffe für unzureichend untersucht
halten, d.h., dass sich über das tatsächliche Ausmaß des Impfrisikos keine abschließenden
Aussagen getroffen werden können, weil diese unzureichend untersucht sind: „The design and
reporting of safety outcomes in MMR vaccine studies, both pre- and post-marketing, are largely
inadequate.“75
Diese (statistisch betrachtet niedrigen) Schädigungswahrscheinlichkeiten laufen gewissermaßen
bei jeder Impfung unter Anwendung der verfügbaren Impfstoffe mit und haften der Impfung
als integritätsbeeinträchtigender Maßnahme immanent an.
2. Grundrechtseingriffe
a) Pflicht zum „Aufweisen von Impfschutz gegen Masern (§ 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E)
nach Maßgabe der STIKO-Empfehlungen (Grundpflicht)
aa) Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme der Impfung durch das Kind
Die durch ein Gesetz angeordnete Pflicht zum „Aufweisen“ eines Impfschutzes, also – wie
dargelegt (→ Rn. 83 ff.) – zur Vornahme einer Masernimpfung, greift in das Grundrecht auf
körperliche Unversehrtheit des Kindes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein. Ein Eingriff ist jedes
dem Staat zurechenbare Verhalten, dass ein im Schutzbereich liegendes Verhalten verunmöglicht
oder erschwert bzw. ein Rechtsgut, dessen Integrität der Schutzbereich bewahren will,
75 Demicheli/Rivetti/Debalini/Di Pietrantonj, Vaccines for measles, mumps and rubella in children, Cochrane
Database Syst Rev. 2012 Feb 15;(2):CD004407, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6458016/ [letzter
Abruf am 11.10.2019]. – MMR = Measles, Mumps, Rubella (Röteln), → Rn. 119.
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beeinträchtigt.76 Hier liegt ein „klassischer“ Eingriff vor, denn gerade durch staatliches Gesetz
wird die vom Kind zu duldende bzw. hinzunehmende Vornahme einer Impfung zur Pflicht
gemacht.
Dass es sich bei § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E um eine Rechtspflicht handelt (→ Rn. 36), streitet
auch die Gesetzesbegründung nicht ab, wenn sie, wie erwähnt (→ Rn. 38), in der Begründung
zu § 20 Abs. 14 IfSchG-E, der u.a. auch im Hinblick auf Abs. 8 normiert, dass das
Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit eingeschränkt werde, von der „gesetzliche[n]
Verpflichtung zum Vorhandensein von Immunität oder Impfschutz gegen Masern bei den in
Absatz 8 genannten Personen“77 spricht.
Gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 müssen Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33
Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSchG-E „betreut werden“, einen „nach den Empfehlungen der Ständigen
Impfkommission ausreichenden Impfschutz gegen Masern […] aufweisen“, sofern sie
keine Immunität gegen Masern aufweisen und keine medizinischen Kontraindikationen bestehen
(§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSchG). Wie erläutert (→ Rn. 84 f.), bedeutet „Impfschutz gegen
Masern […] aufweisen“, dass die Eltern die Impfung des Kindes veranlassen. Da das Kind für
den „Aufweis“ nicht selbst sorgen bzw. die Impfung nicht selbst veranlassen kann, müssen sie
die Eltern ins Werk setzen (→ Rn. 84). Was in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E in sprachlich ungewöhnlicher
Weise („Impfschutz […] aufweisen“) umschrieben wird, wird mit Blick auf
§ 20 Abs. 8 Satz 2 IfSchG-E deutlicher: Es geht – wie es dort ausdrücklich heißt – um die
„Erlangung von Impfschutz“, und er wird dadurch erlangt, dass eine Impfung durch eine Ärztin
oder einen Arzt durchgeführt wird (→ Rn. 84, 312).
Dies müssen gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E genaugenommen die in der Gemeinschaftseinrichtung
„KiTa“ (§ 33 Satz 2 Nr. 1 IfSchG-E) betreuten Personen – hier: die Kinder – veranlassen.
Da sie (als KiTa-Kinder) nicht einwilligungsfähig sind, müssen dies die Eltern tun,
deren Willen kraft der elterlichen Sorge als Wille der minderjährigen, nichteinwilligungsfähigen
Kinder gilt (→ Rn. 94, 260). Auch ohne dass § 20 Abs. 8 IfSchG-E in
§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E, der die Rolle der Eltern betrifft, genannt würde, ergibt sich dies
76 Statt vieler Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313 ff.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, § 78; Bethge,
VVDStRL 57 (1998), S. 7 (38 ff.); Peine, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009,
§ 57.
77 BR-Drucks. 358/19, S. 30.
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nach den allgemeinen familienrechtlichen Regelungen zur elterlichen Sorge.78 Die Pflicht
zum „Aufweisen“ des Impfschutzes gegen Masern beim Kind ist mithin eine Rechtspflicht zur
Herbeiführung der Impfung beim Kind. Aus Sicht des Kindes und seines Grundrechts auf
körperliche Unversehrtheit erweist sich diese Pflicht als Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme
der Impfung.79
bb) Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme einer den STIKO-Empfehlungen entsprechenden
Impfung
Der Inhalt der Pflicht, ausreichenden Impfschutz gegen Masern „aufzuweisen“, richtet sich
nach „den“ Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO), soweit sie (auch) die
Masern betreffen. Die STIKO80 ist eine beim Robert Koch-Institut (RKI)81 bestehende Expertenkommission
(→ Rn. 141), die „Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen
und zur Durchführung anderer Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer
Krankheiten [gibt] und […] Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer
über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung
[entwickelt]“ (§ 20 Abs. 2 Satz 3 IfSchG). „Die Empfehlungen der Kommission werden von
dem Robert Koch-Institut den obersten Landesgesundheitsbehörden übermittelt und anschließend
veröffentlicht“ (§ 20 Abs. 2 Satz 7 IfSchG). „Die obersten Landesgesundheitsbehörden
sollen öffentliche Empfehlungen für Schutzimpfungen oder andere Maßnahmen der spezifischen
Prophylaxe auf der Grundlage der jeweiligen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission
aussprechen“ (§ 20 Abs. 3 IfSchG).
78 S. nur § 1626 Abs. 1, § 1626a Abs. 1, § 1629 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 BGB.
79 In diesem Sinne auch Schuler-Harms, SDSRV (Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbands) Bd. 67
(2018), S. 27 (37): „Impfpflichten verpflichten zur Duldung invasiver und nicht selten riskanter Eingriff in die
körperliche Unversehrtheit und sind daher Grundrechtseingriffe von erheblichem Gewicht.“ Außerdem
Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, 1007 (1012); Deutscher Bundestag/Wissenschaftliche Dienste, Verfassungsrechtliche
Zulässigkeit einer Impfpflicht, WD 3 - 3000 - 019/16, 17.01.2016, S. 3 f.,
https://www.bundestag.de/resource/blob/413560/40484c918e669002c4bb60410a317057/wd-3-019-16-pdfdata.
pdf [letzter Abruf am 11.10.2019]; Kreßner, Gesteuerte Gesundheit, 2019, S. 241, S. 313.
80 Zusf. zu Status und Aufgaben der STIKO sowie zur Entwicklung der Empfehlungen Koch/Dittmann, Kinderärztliche
Praxis 1999, 350 ff.; Spiess, Monatsschrift Kinderheilkunde 2002, 1218 ff.;
Schaade/Widders/Stange/Höhl, Bundesgesundheitsblatt 2009, 1006 ff.; Hofmann, Das Gesundheitswesen 2012,
49 ff.
81 § 2 Abs. 1 BGA-Nachfolgegesetz (BGA-NachfG): „Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit
wird unter dem Namen ‚Robert Koch-Institut‘ ein Bundesinstitut für Infektionskrankheiten und nicht
übertragbare Krankheiten als selbständige Bundesoberbehörde errichtet.“
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Die Empfehlungen der STIKO sind nicht rechtsverbindliche82 „allgemeine Leitlinien“83. Dass
sie vom Bundesgerichtshof (BGH) als medizinischer Standard für die Auslegung des gesundheitsbezogenen
Kindeswohls verstanden werden,84 macht die STIKO-Empfehlungen nicht zu
Rechtsnormen, sie wirken nur als Auslegungshilfe. Überdies führt die Qualifizierung als
„Standard“ nicht dazu, dass die Empfehlungen gegen medizinische Kritik gleichsam immunisiert
wären, denn Standards können sich mit dem Fortgang der Stands der medizinischen Erkenntnisse
weiterentwickeln.
Als Empfehlungen haben die STIKO-Empfehlungen den Charakter von Anregungen und Ratschlägen.
Sie sind, wie es in der höchstrichterlichen Rechtsprechung heißt, eine „Entscheidungshilfe
85 für die Landesgesundheitsbehörden, wenn sie öffentlichen Empfehlungen für
den Impfbereich abgeben. D.h., die STIKO-Empfehlungen sind primär ein Rat an die öffentlichen
Landesgesundheitsbehörden,86 was auch bedeutet, dass die STIKO-Empfehlungen selbst
keine „öffentliche Empfehlungen“ im Sinne des § 20 Abs. 3 IfSchG bzw. des Impfschadensrechts
(§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSchG) sind.
D.h., die – nach ihrer im bisher geltenden IfSchG so gewollten Regelungslogik gerade nicht
rechtsverbindlichen – Empfehlungen der STIKO bestimmen im geplanten Masernschutzgesetz
den Inhalt der Rechtspflicht, Impfschutz aufzuweisen, d.h., diesen durch Impfung herbeizuführen.
Unklar bleibt hierbei, was genau mit „Empfehlungen“ gemeint ist, denn das gesamte Doku-
82 Pflug, Pandemievorsorge – informationelle und kognitive Regelungsstrukturen, 2013, S. 166 f.; laut BSG kann
unter bestimmten, engen Voraussetzungen an „die Stelle einer […] Impfempfehlung […] der Rechtsschein einer
öffentlichen Empfehlung treten, […]“ (BSG, Urt. v. 02.10.2008 – B 9/9a VJ 1/07 R –, SozR 4-3851 § 60 Nr 2,
juris, Rn. 18). Das heißt aber nicht, dass Impfempfehlungen generell ein Rechtsschein in dem Sinne zukommt,
dass sie als geltendes Recht zu behandeln seien (s. hierzu Zuck, MedR 2017, 85 [87 f.]).
83 Erdle, IfSchG, Kommentar, 3. Aufl. 2005, § 20 Erl. 3 und 4, S. 67; s. auch die Begründung zu § 20 Abs. 2
IfSchG, BT-Drucks. 14/2530, S. 71: „Leitlinien“.
84 BGH, Urt. v.15.02.2000 – VI ZR 48/99 –, BGHZ 144, 1, juris, Rn. 25: „medizinischer Standard“; BGH, Beschl.
v. 03.05.2017 – XII ZB 157/16 –, NJW 2017, 2826, juris, Rn. 25: „Die Impfempfehlungen der STIKO sind
in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als medizinischer Standard anerkannt worden.“ S. hierzu auch
ThürOLG, Beschl. v. 07.03.2016 – 4 UF 686/15 –, FamRZ 2016, 1175, juris, Rn. 26, wonach die STIKOEmpfehlungen
den „allgemeinen Stand medizinischer Wissenschaft“ wiedergeben.
85 BSG, Urt. v. 20.07.2005 – B 9a/9 VJ 2/04 R –, BSGE 95, 66, juris, Rn. 21. – Kursive Hervorhebung hinzugefügt.
86 Allg. zur STIKO Bales/Baumann/Schnitzler, IfSchG, Kommentar, 2. Aufl. 2003, § 20 Rn. 11, 16 ff.; s. auch –
auf die Rechtslage unter dem IfSchG übertragbar – Schumacher/Meyn, BSeuchG, Kommentar, 4. Aufl. 1992,
Erläuterungen zu § 14, S. 62.
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ment der STIKO, auf das die Gesetzesbegründung verweist,87 ist mit „Empfehlungen der
Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut“ überschrieben. Demnach könnte das
gesamte Dokument, jedenfalls soweit es (auch) auf für die Masernimpfung relevant ist, in
Bezug genommen worden sein; es enthält z.B. auch Empfehlungen zum „Impfmanagement in
der Arztpraxis“ oder „Hinweis zur Schmerz- und Stressreduktion beim Impfen“,88 also nicht
nur Vorgaben dazu, in welchem Alter die Impfungen regelmäßig erfolgen sollten.
So sehen dies offenbar auch die Ausschüsse des Bundesrates (s. deren Ausführungen
zur Beachtlichkeit der Ausführungen der Empfehlungen hinsichtlich der
Kontraindikationen).89 Hierzu auch → Rn. 34. Die Bundesregierung sieht dies anders
und lehnt eine abschließende Aufzählung der Kontraindikationen in den
STIKO-Empfehlungen ab, BT-Drucks. 19/13826, zu Nr. 7.
In diesem Zusammenhang sei auch betont, dass nicht klar ist, ob es sich um eine sog. statische
Verweisung auf die bei Inkrafttreten des Gesetzes oder – was allerdings unüblich wäre – auf
die zum Zeitpunkt der Vorlage des Gesetzentwurfs maßgebliche Fassung der STIKOEmpfehlungen
handelt. Die Gesetzesbegründung verweist jedenfalls auf eine bestimmte, im
Jahre 2018 vorgelegte Fassung der Empfehlungen,90 die zwischenzeitlich durch Empfehlungen
aus dem Jahre 2019 abgelöst wurde. Denkbar wäre auch eine sog. dynamische Verweisung
auf die jeweils maßgebliche Fassung der Empfehlungen. Nach dem Wortlaut des § 20
Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E ist dies nicht ausgeschlossen, obgleich die Worte „jeweils maßgeblichen“
(oder eine in ähnlicher Weise klarstellende Formulierung) im Normtext fehlen.
Vom Problem der statischen bzw. dynamischen Verweisung abgesehen, werden möglicherweise
nicht nur die – hier so genannten – Regelempfehlungen in Bezug genommen, die die
STIKO hinsichtlich der Masernimpfung insbesondere zum Impfalter ausspricht. Danach „sollte“
die „mit einem Kombinationsimpfstoff (MMR-Impfstoff)“ – MMR = Masern, Mumps,
Röteln (→ Rn. 119) – durchgeführte Impfung „in der Regel im Alter von 11-14 Monaten“
87 BR-Drucks. 358/19, 23, 34, wo auf das Epidemiologische Bulletin Nr. 34/2018 (S. 335 ff.) verwiesen wird.
88 Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2018, S. S. 354, 355; ebenso Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2019,
S. 333, 335.
89 BR-Drucks. 358/1/19, S. 21.
90 Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2018,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2018/Ausgaben/34_18.pdf?__blob=publicationFile [letzter
Abruf am 11.10.2019] sowie Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2019,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2019/Ausgaben/34_19.pdf?__blob=publicationFile [letzter
Abruf am 11.10.2019].
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erfolgen „Eine zweite Impfung sollte mit einem Abstand von ≥ 4 Wochen91 erfolgen, spätestens
bis zum 2. Geburtstag, um den frühestmöglichen Impfschutz zu erreichen.“92
Möglicherweise sind aber auch die Empfehlungen der STIKO gemeint, die von dieser Regelempfehlung
abweichen:
„In folgenden Situationen kann die 1. MMR-Impfung unter Berücksichtigung der
gegebenen epidemiologischen Situation bereits ab einem Alter von 9 Monaten erfolgen:
▶ bevorstehende Aufnahme in eine Gemeinschaftseinrichtung
(z. B. Kita);
▶ nach Kontakt zu Masernkranken.
Sofern die Erstimpfung im Alter von 9 – 10 Monaten erfolgte, muss die 2. MMRImpfung
bereits zu Beginn des 2. Lebensjahres gegeben werden.“93
„Für eine MMR-Impfung von Säuglingen unter 9 Monaten fehlen umfassende
Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit, sodass solche Säuglinge in einem Ausbruchsgeschehen
in erster Linie durch Impfungen der Kontaktpersonen in der
Umgebung zu schützen sind. Individuelle Risiko-Nutzen-Abwägungen können eine
Impfung mit 6 – 8 Monaten ausnahmsweise begründen. Säuglinge, die im Alter
von 6 – 8 Monaten geimpft wurden, sollen zum Aufbau einer langfristigen Immunität
2 weitere MMR/V-Impfstoffdosen mit 11 – 14 und 15 – 23 Monaten erhalten.“
94
Mit anderen Worten: Die „Empfehlungen“ raten nicht die Befolgung einer eindeutigen Verhaltensweise
an, sondern sie lassen verschiedene Handlungsoptionen zu. Worauf die Wörter
„Empfehlungen der Ständigen Impfkommission“ also genau verweisen, ist also nicht klar.
Folglich muss sich die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E
mit der Frage befassen, ob die Pflicht mit Blick auf die beschriebenen Unklarheiten infolge
91 Gemeint ist: vier Wochen oder weniger.
92 Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2018, S. 348, Nr. 34/2019, S. 327.
93 Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2018, S. 348, Nr. 34/2019, S. 327.
94 Epidemiologisches Bulletin Nr. 34/2018, S. 348; Nr. 34/2019, S. 327.
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der Verweisung auf die STIKO-Empfehlungen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist
(→ Rn. 126 ff., 133 ff.) und ferner damit, ob die Impfpflicht überhaupt verhältnismäßig ist
(→ Rn. 154 ff.).
cc) Pflicht zur Duldung bzw. Hinnahme einer Impfung mit einem Kombinationsimpfstoff
und als verkappte unbegrenzte Impfpflicht
Zur Pflicht, die Impfung zu dulden bzw. hinzunehmen, gehört auch die Pflicht, die Impfung
mit einem Kombinationsimpfstoff hinzunehmen, wenn „ausschließlich Kombinationsimpfstoffe
zur Verfügung stehen“ (§ 20 Abs. 8 Satz 2 IfSchG-E). Nach dem Wortlaut scheint das
Zurverfügungstehen von Kombinationsimpfstoffen eine Option neben anderen zu sein.95 In
der Gesetzesbegründung heißt es hingegen, dass „gegenwärtig ausschließlich“96 Kombinationsimpfstoffe
zur Verfügung stünden, ohne dass erläutert würde, wann die mit „gegenwärtig“
bezeichnete Zeitspanne endet. Gemeint ist, da relativierende Formulierungen nicht zu
finden sind, ein bis auf Weiteres dauerhaft hinzunehmender Zustand. Der Deutsche Ethikrat
weist darauf hin, „dass seit 2017 in Deutschland kein Masern-Einzelimpfstoff mehr verfügbar
ist.“97
Zum Impfstoffmangel im Hinblick auf § 20 Abs. 9 Satz 5 IfSchG-E („allgemeine
Ausnahmen“) → Rn. 244.
Das bedeutet aber, dass das geplante Gesetz – regelhaft und entgegen dem Gesetzestitel –
nicht nur eine Masernimpfung gebietet, sondern nach den gegenwärtig verfügbaren MMRund
MMRV-Impfstoffen zudem eine regelhaft obligatorische „Mitimpfung“98 gegen Mumps,
Masern, Röteln (MMR) und ggfs. auch Windpocken, also Varizellen (MMRV); s. hierzu auch
die Ausschüsse des Bundesrates („quasi […] Beifang“) → Rn. 152.
95 So an einer Stelle auch die Gesetzesbegründung, BR-Drucks. 358/19, S. 30: „Kombinationsimpfstoffe, die
möglicherweise ausschließlich zur Verfügung stehen“. – Kursive Hervorhebung hinzugefügt.
96 BR-Drucks- 358/19, S. 26.
97 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 66, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
98 Den Begriff „Mitimpfung“ verwendet der Deutsche Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom
27.06.2019, S. 66, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
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Die Ausschüsse des Bundesrats weisen darauf hin, dass z.B. in der Schweiz ein Einfachimpfstoff
(= monovalenter bzw. Monoimpfstoff) verfügbar ist.99 Der – vorgeblich – in Deutschland
nur als Dreifach- (MMR) oder Vierfachimpfstoff (MMRV) ausschließlich verfügbare
Impfstoff führt nach Maßgabe des (geplanten) Gesetzes unter der Hand zu einer Ausweitung
der Impfpflicht auf andere Infektionskrankheiten, und zwar nicht nur auf Masern, Mumps,
Röten und Windpocken (Varizellen). Das (geplante) Gesetz macht sich hier stillschweigend
von dem (in der Gesetzesbegründung nicht einmal ansatzweise angesprochenen) Produktionsverhalten
der pharmazeutischen Industrie abhängig (→ Rn. 152).100 Diese „Risiken durch
Marktabhängigkeit“ sind seit langem bekannt.101 Würde die pharmazeutische Industrie aus
unternehmerischen Gründen entscheiden, dass sich künftig nur noch die Produktion und der
Vertrieb von Kombinationsimpfstoffen lohnt, die über MMR(V) hinaus noch weitere Infektionskrankheiten
erfassen, so würde das geplante Gesetz über das Vehikel des eingesetzten
Kombinationsimpfstoffs eine dem Grunde nach unbegrenzte Impfpflicht im Hinblick auf andere
Erkrankungen gestatten.102
D.h., § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG verpflichtet nicht nur zur Hinnahme bzw. zur Duldung einer
Impfung mit dem Kombinationsimpfstoff MMR(V), und damit zu einer Impfung gegen andere
Krankheiten als die Masern, sondern darüber hinaus schafft die Vorschrift eine dauerhafte
Pflicht zur Hinnahme und Duldung von Impfungen gegen Krankheiten durch Kombinationsimpfstoffe,
die neben den Masern eine durch das (geplante) Gesetz nicht begrenzte Vielzahl
von Infektionskrankheiten betreffen können.
99 BR-Drucks. 358/1/19, S. 32.
100 So zutr. BR-Drucks. 358/1/19, S. 32.
101 Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Schutzimpfungen – Chancen und Herausforderungen,
2008, S. 13 – allg. zum Impfstoffmarkt,
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2008_NatEmpf_Schutzimpfung-DE.pdf [letzter Abruf am
11.10.2019].
102 BR-Drucks. 358/1/19, S. 32: „faktische Impfpflicht […] für andere Erkrankungen“.
120
121
46
b) Akzessorische Einhaltungspflichten (= grundrechtsbeschränkende Folgeeingriffe), die
beim fehlenden Nachweis einer Impfung anknüpfen
Auch die akzessorischen Einhaltungspflichten, soweit sie als Nachweispflicht auf die Grundpflicht
verweisen oder die „Einhaltung“ (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSchG-E) bzw. „Erfüllung der
[…] Nachweispflichten“103 (und damit indirekt: die Erfüllung der Grundpflicht zur Vornahme
der Impfung) bezwecken (→ Rn. 85), greifen in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, denn sie vertiefen
bzw. verstärken den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, die das nichteinwilligungsfähige
Kind zu dulden hat. Es ist gerade der Zweck dieser akzessorischen Pflichten, die Einhaltung
der Nachweispflicht (§ 20 Abs. 9 IfSchG-E) – und somit die mit dem Nachweis untrennbar
zusammenhängende Pflicht zum Impfschutz-„Aufweisen“ (→ Rn. 85) – zu bewirken.
Dass diese zur Grundpflicht akzessorischen Pflichten ggfs. auch in weitere Grundrechte eingreifen,
ändert nichts daran, dass sie zumindest auch in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eingreifen (→
Rn. 90 ff.).
Im Folgenden wird – weil es sich bei diesen akzessorischen Pflichten gewissermaßen „nur“
um Folgeeingriffe zu dem grundlegenden Eingriff gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E handelt
(→ Rn. 90), die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Grundpflicht (→ Rn. 84) – bezogen
auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – im Vordergrund stehen; die Prüfung der verfassungsrechtlichen
Rechtfertigung der durch die akzessorischen Pflichten ausgelösten zusätzlichen Eingriffe erfolgt
sodann ergänzend.
Die verfassungsrechtswissenschaftliche Debatte über „additive“ bzw. „kumulative“
Grundrechtseingriffe, die bislang weder zu terminologisch noch zu inhaltlich
einhelligen Resultaten geführt hat, muss hier nicht aufgegriffen werden.104 Die in
Rede stehenden akzessorischen Einhaltungspflichten sind final darauf ausgerichtet,
die Befolgung der Grundpflicht durchzusetzen; darüber hinaus greifen sie
ggfs. noch in weitere Grundrechte ein, dazu → Rn. 90.
103 BR-Drucks. 358/19, S. 30.
104 Ausführlich Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, 2019; ferner (mit unterschiedlichen Akzenten)
Lücke, DVBl 2001, 1469; Klement, AöR Bd. 134 (2009), 35 ff.; Winkler, JA 2014, 881 ff.; Kaltenstein, SGb
2016, 365 ff.
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3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung insb. mit Blick auf die Impfpflicht (Impfschutz
aufweisen, § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E)
a) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (hinreichend bestimmtes und klares
Gesetz)
Gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG darf in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nur
aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. Dieses den Eingriff gestattende Gesetz muss
bestimmten allgemeinen Anforderungen entsprechen. Insbesondere muss es dem Gebot der
Normenbestimmtheit bzw. Normenklarheit genügen.
Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt – als Aspekt des rechtsstaatlichen Gebots der Rechtssicherheit
– das Gebot der Normenbestimmtheit bzw. Normenklarheit:
„Das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit […] soll die Betroffenen
befähigen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen,
damit sie ihr Verhalten danach ausrichten können.“105
D.h.: Die oder der
„Betroffene muss die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung so erkennen
können, dass er [oder sie] sein Verhalten danach auszurichten vermag. Die Anforderungen
an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm erhöhen sich, wenn die Unsicherheit
bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten
erschwert. Soweit die praktische Bedeutung einer Regelung vom Zusammenspiel
der Normen unterschiedlicher Regelungsbereiche abhängt, müssen die Klarheit
des Normeninhalts und die Voraussehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung
gerade auch im Hinblick auf dieses Zusammenwirken gesichert sein […].“106
Das bedeutet auch:
105 BVerfG, Urt. v. 26.07.2005 – 1 BvR 782/94, 1 BvR 957/96 –, BVerfGE 114, 1, juris, Rn. 187.
106 BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 – 1 BvF 3/92 –, BVerfGE 110, 33, juris, Rn. 103. – Eckige Klammer hinzugefügt.
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„Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise erkennen können, ob die
tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge
vorliegen […]. Dabei reicht es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung
der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen
lässt […].“107
Wie oben dargelegt (→ Rn. 119 f.), lässt der Verweis auf die Empfehlungen der STIKO nicht
erkennen, ob eine bestimmte oder die je aktuelle Fassung der Empfehlungen gemeint ist, ferner,
ob das ganze unter der Überschrift „Empfehlungen“ erschienene Dokument der STIKO in
Bezug genommen wird, oder ob nur die – hier so genannten – Regelempfehlungen (→ Rn.
111) oder auch die Empfehlungen gemeint sind, soweit sie im Einzelfall zu prüfende Abweichungen
von den Regelempfehlungen erlauben. Die Anwendung der üblichen Auslegungsmethoden
hilft hier nicht weiter, weil die Unklarheit aus der unspezifischen Verwendung des
Wortes „Empfehlungen“ resultiert, das auf unterschiedliche Bedeutungsvarianten referiert. So
wird nicht klar, was genau die Verhaltensanforderungen sind, die die Pflicht, Impfschutz aufzuweisen
bzw. diesen nachzuweisen (einschließlich der dazu akzessorischen Einhaltungspflichten)
aufgibt. Mittels einer systematischen, teleologischen oder entstehungsgeschichtlichen
(insbesondere die Gesetzesbegründung berücksichtigenden) Auslegung lässt sich die
Unklarheit nicht beheben.
Schon mangels Vereinbarkeit der Grundrechteingriffe, insbesondere des § 20 Abs. 8 Satz 1
IfSchG-E, mit Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. dem rechtsstaatlichen Bestimmheitsgebot
(Art. 20 Abs. 3 GG) resultiert daher die Verfassungswidrigkeit der hier in Rede stehenden
Pflichten, namentlich der Impfpflicht (→ Rn. 84, 100) des § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E.
b) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 (widerspruchsfreies Gesetz) – Die Empfehlungen
der SIKO
Zu den Anforderungen, denen das grundrechtsbeschränkende Gesetz genügen muss, gehört
auch das Gebot der Widerspruchfreiheit:
107 BVerfG, Urt. v. 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. –, BVerfGE 102, 254, juris, Rn. 325 a.E.
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„Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und
der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten
nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich
machen.“108
Der Widerspruch beginnt damit, dass das (geplante) Gesetz in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E –
in nicht hinreichend bestimmter Weise (→ Rn. 126 ff.) – die STIKO-Empfehlungen in Bezug
nimmt. Unabhängig davon, was genau von den „Empfehlungen“ als Normbestandteil rezipiert
wird, so sind es jedenfalls auch die Regelempfehlungen (→ Rn. 111), wonach die „mit einem
Kombinationsimpfstoff (MMR-Impfstoff)“ durchgeführte Impfung „in der Regel im Alter von
11-14 Monaten“ erfolgen „sollte“. Und: „Eine zweite Impfung sollte mit einem Abstand von
≥ 4 Wochen erfolgen, spätestens bis zum 2. Geburtstag, um den frühestmöglichen Impfschutz
zu erreichen.“ Dazu → Rn. 113 a.E.
Die „Empfehlungen der Sächsischen Impfkommission zur Durchführung von Schutzimpfungen
im Freistaat Sachsen“ (SIKO), die 1991 gegründet wurde, berät das Sächsische Gesundheitsministerium,
wenn es öffentliche Empfehlungen für Schutzimpfungen auf der Grundlage
der Empfehlungen der STIKO abgibt.109 D.h., die SIKO arbeitet auf der Grundlage der
STIKO-Empfehlungen. Diese sind aber weder für die die SIKO noch für die oberste Landesgesundheitsbehörde
(das sächsische Gesundheitsministerium) rechtlich verbindlich, vielmehr
sind auch abweichende Empfehlungen gestattet.110 Auch die SIKO-Empfehlungen sind (wie
die STIKO-Empfehlungen) keine Rechtsnormen (→ Rn. 105).
Die SIKO hat Empfehlungen zur Masernimpfung erlassen, die von den STIKOEmpfehlungen
abweichen.111 Zur Erstimpfung heißt es:
108 BVerfG, Urt. v. 07.05.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/9598 –, BVerfGE 98, 106, juris, Rn. 58.
109 https://www.gesunde.sachsen.de/siko.html [letzter Abruf am 11.10.2019]. – Zu Unterschieden zwischen
SIKO- und STIKO-Empfehlungen – allerdings ohne auf die Masern einzugehen – Deutscher Bundestag/
Wissenschaftliche Dienste, Ständige Impfkommission und Sächsische Impfkommission – Unterschiede in
den Impfempfehlungen, WD 9 - 3000 - 102/18, 19.12.2018,
https://www.bundestag.de/resource/blob/634378/b0fdad5572bb8abc1a0641927f6cddd0/WD-9-102-18-pdfdata.
pdf [letzter Abruf am 11.10.2019].
110 Bales/Baumann/Schnitzler, IfSchG, Komentar, 2. Aufl. 2003, § 20 Rn. 16.
111 SIKO, Empfehlungen der Sächsischen Impfkommission zur Durchführung von Schutzimpfungen im Freistaat
Sachsen (Impfempfehlung E 1) v. 02.09.1993, Stand: 01.01.2019, S. 7;
https://www.slaek.de/media/dokumente/02medien/Patienten/gesundheitsinformationen/impfen/E1_2019_Akt_Li
ste1.pdf [letzter Abruf am 11.10.2019].
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„Ab 2. Lebensjahr (ab vollendetem 12. Lebensmonat)“. Zur Zweitimpfung heißt
es: „2. MMR-Impfung um den 4. Geburtstag, frühestens zur U8 (46.-48. Lebensmonat),
bis spätestens / oder zur Schulaufnahmeuntersuchung“.
Damit weicht die SIKO-(Regel-)Empfehlung von der STIKO-(Regel-)Empfehlung ab, besonders
deutlich hinsichtlich der Zweitimpfung.
Für Kinder (bzw. ihre Eltern) mit Wohnsitz in Sachsen führt dies zu Unklarheiten darüber, an
welche Empfehlungen sie gebunden sind: Folgen sie den SIKO-Empfehlungen, dann sichert
sie das im Falle eines Impfschadens ab, weil nur die auf Anraten der SIKO zustande gekommene
Öffentliche Empfehlung der obersten Gesundheitsbehörde (Gesundheitsministerium)
insoweit maßgeblich ist112 (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSchG), nicht aber die STIKOEmpfehlung
(→ Rn. 106). Andererseits ist das Bundesgesetz zu befolgen, das – wobei das
nicht klar ist (→ Rn. 126 ff.) – womöglich nur aufgibt, die Regelempfehlungen (→ Rn. 111)
der STIKO umzusetzen. Zwar sind weder die STIKO- noch die SIKO-Empfehlungen Rechtsnormen
(→ Rn. 105), aber der Rechtsnormwiderspruch liegt darin, dass einerseits gemäß § 20
Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E, andererseits gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSchG für denselben
Sachverhalt unterschiedliche Anforderungen definiert werden, weil inhaltlich abweichende
Empfehlungen in Bezug genommen werden. (Die anderen obersten Landesgesundheitsbehörden
haben die STIKO-Empfehlungen zu öffentlichen Empfehlungen erklärt.)113
112 Sachsen: Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz über
öffentlich empfohlene und zur unentgeltlichen Durchführung bestimmte Schutzimpfungen und andere Maßnahmen
der spezifischen Prophylaxe (VwV Schutzimpfungen) v. 7.09.2017 (SächsABl. S. 1239).
113 Baden-Württemberg: Bekanntmachung des Sozialministeriums über öffentlich .empfohlene Schutzimpfungen
v. 06.05.2015 (GABl. S. 277); Bayern: Öffentlich empfohlene Schutzimpfungen (§ 20 Abs. 3 des Infektionsschutzgesetzes)
– Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt und Gesundheit v.
24.09.2013 (AllMBl. S. 425); Berlin: Rundschreiben über öffentlich empfohlene Schutzimpfungen und andere
Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe v. 08.04.2015 (ABl. S. 578); Brandenburg: Öffentlich empfohlene
Schutzimpfungen für das Land Brandenburg v. 06.03.2015 (ABl. S. 305); Bremen: Öffentliche Impfempfehlung
des Landes Bremen v. 06.03.2018 (ABl. S. 198); Hessen: Öffentliche Empfehlung von Schutzimpfungen in
Hessen v. 12.09.2013 (StAnz. 46/2013, S. 1404); Mecklenburg-Vorpommern: Durchführung von Schutzimpfungen
in Mecklenburg-Vorpommern (SchutzimpfVV M-V), AmtsBl. 2013, S. 951/AmtsBl. 2018, S. 644; Niedersachsen:
Freiwillige Schutzimpfungen nach dem IfSG v. 28.04.2009 (Nds. MBl. 2009, 475); NRW: Öffentliche
Empfehlung für Schutzimpfungen, Runderlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales v.
19.10.2009 (MBl. NRW. 2009, S. 455); Rheinland-Pfalz: Öffentlich empfohlene Schutzimpfungen im Sinne des
§ 20 Abs. 3 des Infektionsschutzgesetzes v. 05.04.2001 (MinBl. S. 309, zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift
vom 06.07.2005, MinBl. S. 238); Saarland: Bekanntmachung über öffentlich empfohlene Schutzimpfungen
und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe im Saarland v. 24.06.2013 (Amtsbl. II S. 671); Sachsen-
Anhalt: Öffentliche Empfehlung von Schutzimpfungen v. 28.02.2012 (MBl. LSA Nr. 9/2012, S. 119); Thüringen:
Öffentlich empfohlene Schutzimpfungen des Landes Thüringen gemäß § 20 Abs. 3 des Infektionsschutzgesetzes
(ThürStAnz Nr. 50/2014 S. 1914).
138
51
Diesem Widerspruch sind nicht nur Kinder bzw. ihre Eltern, die in Sachsen wohnen, ausgesetzt,
sondern auch solche Kinder bzw. Eltern, die sich nur zeitweilig in Sachsen aufhalten. Je
nachdem, ob sich Kinder außerhalb oder innerhalb Sachsens aufhalten, wäre mal (z.B. für die
Erstimpfung) die STIKO-Empfehlung und – soll der Impfschadensschutz gewährleistet sein –
mal die SIKO-Empfehlung (z.B. auch nur bei der Zweitimpfung, etwa nach einem Wohnungsumzug
nach Sachsen, nachdem die Erstimpfung außerhalb Sachsens erfolgt ist). Das
stiftet Verwirrung über das maßgebliche Recht. Das ist mit dem rechtsstaatlichen Gebot der
Widerspruchsfreiheit von Gesetzen nicht vereinbar.
Die Verwirrung wird durch die Schutzimpfungs-Richtlinie (SI-RL) des Gemeinsamen
Bundesausschusses (G-BA) noch verstärkt, → Rn. 324.
c) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Abs. 2 GG (demokratisch legitimiertes
Gesetz)
aa) Die Verweisung auf die STIKO-Empfehlungen: die STIKO als eigentlicher Gesetzgeber
Gesetze müssen demokratisch legitimiert sein. D.h., der Inhalt einer Rechtsnorm nach Tatbestand
und Rechtsfolge darf dem demokratischen Gesetzgeber nicht nur formal zugerechnet
werden.114 Es muss klar sein, dass dieser die Verantwortung für den Inhalt vollumfänglich
übernimmt. Insofern trägt das Parlament nicht nur eine abstrakt-äußerliche Verantwortung
dafür, dass die von ihm verabschiedeten Gesetze förmlich auf ihn zurückzuführen sind, sondern
es handelt sich um eine konkrete Verantwortung für den Inhalt der Rechtsnorm.115 Daran
fehlt es bei der – erst recht: dynamischen – Verweisung auf Dokumente administrativer Stellen,
die – obgleich ihnen die Rechtsnormqualität fehlt – wie Rechtsnormen in Bezug genommen
werden und den Inhalt einer Rechtsnorm, etwa eines Gesetzes, wesentlich bestimmen.116
114 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.01.2019 – 2 BvC 62/14 –, NJW 2019, 1201, juris, Rn. 45: „Demokratie […] soll
sich nicht in einem rein formalen Zurechnungsprinzip erschöpfen […].“
115 Allg. zu diesem Zusammenhang BVerfG Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. –, BVerfGE 123, 267, juris,
Rn. 175.
116 Hierzu allg. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 118.
52
Die STIKO ist eine „beim“ (§ 20 Abs. 2 Satz 1 IfSchG) RKI bestehende Kommission
(→ Rn. 104). Gemäß § 20 Abs. 2 Satz 4 IfSchG beruft das Bundesministerium für Gesundheit
(BMG) die Mitglieder der Kommission – laut STIKO-Geschäftsordnung sind das zwischen 12
und 18 Mitglieder,117 derzeit sind es 18 – im Benehmen mit den obersten Landesgesundheitsbehörden
grundsätzlich alle drei Jahre neu. Es handelt sich um naturwissenschaftliche bzw.
medizinische Expertinnen und Experten, die (derzeit) überwiegend an Universitäten im Inund
Ausland tätig sind.118 Ein Mitglied der STIKO „kann“ durch das BMG abberufen werden,
wenn Gründe vorliegen, die der Sache auf fehlende Unbefangenheit bzw. Unabhängigkeit
hindeuten (näher § 7 Abs. 8 STIKO-Geschäftsordnung). Vertreter des Bundesministeriums
für Gesundheit, der obersten Landesgesundheitsbehörden, des Robert Koch-Institutes und des
Paul-Ehrlich-Institutes nehmen mit beratender Stimme an den Sitzungen teil (§ 20 Abs. 2 Satz
5 IfSchG). Weitere Vertreter von Bundesbehörden können ebenfalls daran teilnehmen (§ 20
Abs. 2 Satz 6 IfSchG). Die Kommission entscheidet nach dem Stand der Wissenschaft (§ 1
Abs. 3 Satz 1 STIKO-Geschäftsordnung). „Die Mitgliedschaft in der Kommission ist ein persönliches
Ehrenamt, das keine Vertretung zulässt. Die Mitglieder sind bei ihrer Tätigkeit nur
ihrem Gewissen verantwortlich und zur unparteiischen Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet“
(so § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 STIKO-Geschäftsordnung). Die Empfehlungen der Kommission
werden von dem Robert Koch-Institut den obersten Landesgesundheitsbehörden übermittelt
und anschließend veröffentlicht (§ 20 Abs. 1 Satz 7 IfSchG). Das RKI ist zur Veröffentlichung
auch dann verpflichtet, wenn es die Empfehlungen inhaltlich nicht mitträgt.119 „Dem
RKI steht es dabei frei, zu den Empfehlungen Stellung zu nehmen.“120
Vermittels des § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E werden die Empfehlungen dieser permanent bei
einer Bundesoberbehörde eingerichteten Experten- und Expertinnenkommission zu zentralen,
inhaltsbestimmenden Bestandteilen einer Rechtsnorm gemacht (Grundpflicht, § 20 Abs. 8
Satz 1 IfSchG-E), die wiederum die Basis für grundrechtsbeschränkende Folgeeingriffe (akzessorische
Einhaltungspflichten) bildet. Es spricht viel dafür, dass es der STIKO an der de-
117 Geschäftsordnung der STIKO, Vorbemerkung,
https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Rechtl_Grundlagen/Geschaeftsordnung/geschaeftsordnu
ng_node.html;jsessionid=FE17FF3AE25CAC15EE98B4D51E999AB0.2_cid390#doc2388912bodyText2 [letzter
Abruf am 11.10.2019].
118 Informationen zu den Mitgliedern der STIKO unter
https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Mitgliedschaft/Mitglieder/mitglieder_node.html [letzter
Abruf am 11.10.2019].
119 Bales/Baumann/Schnitzler, IfSchG, Kommentar, 2. Aufl. 2003, § 20 Rn. 11.
120 So die Begründung zu § 20 Abs. 2 IfSchG, BT-Drucks. 14/2539, S. 74.
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53
mokratischen Legitimation mangelt,121 und zwar ungeachtet der Aussage eines früheren
STIKO-Vorsitzenden, die STIKO-Mitglieder unterlägen einer „rigorosen Kontrolle durch das
Bundesministerium für Gesundheit“122. Jedenfalls dürfte es an der für die demokratische Legitimation
gebotenen hinreichenden normativen Vorstrukturierung123 der Kommissionstätigkeit
durch ein (Parlaments-)Gesetz (und nicht bloß durch eine vom BMG genehmigte Geschäftsordnung,
vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3 IfSchG) fehlen.124 Die Frage nach der demokratischen
Legitimation der STIKO kann indes dahinstehen. Mit den Empfehlungen werden jedenfalls
keine Rechtsnormen in Bezug genommen, die ihrerseits in einem demokratisch legitimierten
Verfahren erlassen wurden. Dies ist aber eine verfassungsrechtlich zwingende Bedingung
(→ Rn. 140). Die in § 20 Abs. 8 Satz 1 (und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1) IfSchG-E gewählte Prozedur
verunklart die Verantwortungsstränge, verleiht der STIKO praktisch eine Blankovollmacht
und entpuppt sich als Entäußerung von Rechtsetzungskompetenzen des parlamentarischen
Gesetzgebers.125
Vor diesem Hintergrund erweist sich die grundrechtsbeschränkende (geplante) Gesetzesbestimmung
des § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E (Grundpflicht) – die Voraussetzung für die Nachweispflicht
(§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E) und die akzessorischen Einhaltungspflichten ist –
wegen des Verweises auf die STIKO-Empfehlungen als nicht hinreichend demokratisch legitimiertes
Gesetz, so dass die (geplante) Gesetzesbestimmung schon deswegen verfassungswidrig
ist.
121 Grüner, Biologische Katastrophe, 2017, S. 185: „möglicherweise fehlende demokratische Legitimation der
STIKO-Mitarbeiter“.
122 F. Hofmann, Die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut, in: Das Gesundheitswesen 2012, 49
(51); zu seinem Ausscheiden s. das Interview im Deutschen Ärzteblatt 2011, A-363,
https://www.aerzteblatt.de/archiv/80995/Interview-mit-Prof-Dr-rer-nat-Dr-med-Friedrich-Hofmann-
(Universitaet-Wuppertal)-Ex-STIKO-Vorsitzender-Unmut-hinter-den-Kulissen [letzter Abruf am 11.10.2019].
123 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.05.1995 – 2 BvF 1/92 –, BVerfGE 93, 37 (72), juris, Rn. 147: „normativ […]
vorstrukturiert“; BVerfG, Urt. v. 31.10.1990 – 2 BvF 3/89 –, BVerfGE 83, 60 (74), juris, Rn. 41: „inhaltlich […]
vorstrukturiert“; hierzu Rixen, DVBl 2014, 949 (955).
124 Ob die STIKO das notwendige Maß an demokratischer Legitimation aufweist, wird von Pflug, Pandemievorsorge
– informationelle und kognitive Regelungsstrukturen, 2013, S. 154 ff., 166 ff. nicht strikt anhand der vom
BVerfG formulierten Kriterien geprüft. – Die verfassungsrechtliche Kritik an ähnlichen Kommissionen, die bei
anderen Bundesministerien angesiedelt sind, ist hier im Wesentlichen übertragbar, zur Lebensmittelbuchkommission
Rixen, DVBl. 2014, 949 ff.; dazu, dass nach der demokratischen Legitimation der jeweiligen gesetzlichen
Ermächtigung zur Vornahme einer bestimmten Tätigkeit zu fragen ist, BVerfG, Beschl. v. 10.11.2015 – 1
BvR 2056/12 –, BVerfGE 140, 229.
125 Formulierung weithin in Anlehnung an Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015,
Art. 20 (Demokratie) Rn. 118 (konkret zur dynamischen Verweisung).
143
54
bb) Die Verweisung auf die STIKO-Empfehlungen im Lichte der Bußgeldandrohung
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich aufgrund der Verweisung auf die STIKOEmpfehlungen
auch ein Problem im Hinblick auf das spezielle Bestimmtheitsgebot des
Art. 103 Abs. 2 GG ergibt, das auch für Bußgeldgesetze gilt.126 Der Verstoß gegen die Nachweispflicht
gemäß § 20 Abs. 12 Satz 1 i.V.m. Abs. 13 IfSchG-E kann mit einem Bußgeld
geahndet werden (§ 73 Abs. 1a Nr. 7c IfSchG-E). § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSchG-E bezieht sich
auf § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E, der auf die STIKO-Empfehlungen verweist.
In der Rechtsprechung des BVerfG ist geklärt, dass der parlamentarische Gesetzgeber alle
wesentlichen Entscheidungen über die Ahndbarkeit selbst treffen muss.127 Allerdings muss
der parlamentarische Gesetzgeber
„den Tatbestand nicht stets vollständig im förmlichen Gesetz umschreiben, sondern
darf auf andere Vorschriften“ – gemeint sind Rechtsvorschriften – „verweisen.
Solche Verweisungen sind als vielfach übliche und notwendige gesetzestechnische
Methode anerkannt, sofern die Verweisungsnorm hinreichend klar erkennen
lässt, welche Vorschriften im Einzelnen gelten sollen, und wenn diese Vorschriften
dem Normadressaten durch eine frühere ordnungsgemäße Veröffentlichung
zugänglich sind […]. Dabei kann der Gesetzgeber auch auf Vorschriften
eines anderen Normgebers verweisen; denn eine solche Verweisung bedeutet
rechtlich nur den Verzicht, den Text der in Bezug genommenen Vorschriften in
vollem Wortlaut in die Verweisungsnorm aufzunehmen […].“128
Dabei steigen die Anforderungen an die Bestimmtheit der Umschreibung des ahndbaren Verhaltens
im förmlichen Gesetz, wenn auf untergesetzliche Rechtsvorschriften (wie etwa eine
Rechtsverordnung) verwiesen wird.129
126 BVerfG, Beschl. v. 08.12.2015 – 1 BvR 1864/14 –, NJW 2016, 1229, juris, Rn. 4: „Der Schutz der Vorschrift
erstreckt sich auch auf die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten ([…] stRspr).“ stRspr = ständige Rechtsprechung.
127 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 21.09.2016 – 2 BvL 1/15 –, BVerfGE 143, 38, juris, Rn. 38.
128 BVerfG, Beschl. v. 21.09.2016 – 2 BvL 1/15 –, BVerfGE 143, 38, juris, Rn. 42. –
hinzugefügt.
129 BVerfG, Beschl. v. 06.05.1987 – 2 BvL 11/85 –, BVerfGE 75, 329, juris, Rn. 38.n55
Was soeben mit Blick auf das allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot (→ Rn. 126 ff.)
und die Erfordernisse des hinreichend demokratisch legitimierten Gesetzes (→ Rn. 140 ff.)
ausgeführt wurde, gilt unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG in zugespitzter Weise: Die
Bußgeldnorm verweist nicht, obgleich dies geboten wäre, auf Rechtsnormen, sondern auf die
STIKO-Empfehlungen, die keine Rechtsnormen sind (→ Rn. 105). Das verbietet Art. 103
Abs. 2 GG, wie dargelegt (→ Rn. 146), strikt.
Folglich ist die Bußgeldandrohung des § 73 Abs. 1a Nr. 7c IfSchG-E, die über § 20 Abs. 12
Satz 1, Abs. 3 IfSchG-E bei § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E anknüpft, wegen Verstoßes gegen
Art. 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig. Auch unter diesem Aspekt ist der Verweis auf die
STIKO-Empfehlungen in § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E, der den Verweis auf die STIKOEmpfehlungen
in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E (→ Rn. 143) nur wiederholt, verfassungswidrig.
d) Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (Wesentlichkeit) – Kombinationsimpfstoffe
Das Gesetz, das gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG Einschränkungen des Grundrechts der körperlichen
Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) legitimieren kann, muss der sog. Wesentlichkeitslehre
des BVerfG genügen. Danach gilt:
„Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für
die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst
zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive
zu überlassen ([…] stRspr). […] Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien
sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin
verbürgten Grundrechten zu entnehmen […]. Danach bedeutet wesentlich im
grundrechtsrelevanten Bereich in der Regel ‚wesentlich für die Verwirklichung
der Grundrechte‘ […]. Als wesentlich sind also Regelungen zu verstehen, die für
die Verwirklichung von Grundrechten erhebliche Bedeutung haben […] und sie
besonders intensiv betreffen […].“130
130 BVerfG, Beschl. v. 21.04.2015 – 2 BvR 1322/12, 2 BvR 1989/12 –, BVerfGE 139, 19, juris, Rn. 52. – stRspr
= ständige Rechtsprechung. (Kursive Hervorhebungen hinzugefügt)
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Daran fehlt es mit Blick auf § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E, soweit er die Verwendung von
Kombinationsimpfstoffen gestattet.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, die derzeitigen STIKO-Empfehlungen
bezögen sich nur auf MMR- und MMRV-Impfungen und erklärten implizit nur
die entsprechenden Kombinationsimpfstoffe für maßgeblich. Denn, wie dargelegt
(→ Rn. 104 ff.), können die STIKO-Empfehlungen geändert werden und sie
müssten dabei auch die Verfügbarkeit von Impfstoffen für Schutzimpfungen berücksichtigen;
ein wirksamer Schutz gegen die Entgrenzung ist dies nicht.
Wie dargelegt (→ Rn. 120), gestattet diese Bestimmung aufgrund der Abhängigkeit der Impfstoffzusammensetzungen
von den Entscheidungen der pharmazeutischen Industrie, dass –
ohne dass dies im Wortlaut des Gesetzes (siehe nur die Überschrift „Masernschutzgesetz“)
deutlich würde – gegen zahlreiche andere Krankheiten geimpft werden kann, wobei – je nach
Zusammensetzung des Impfstoffs noch weitere Krankheiten hinzukommen können, was im
(geplanten) Gesetz nicht näher definiert wird:
„Die grundrechtsbeschränkende Wirkung des Gesetzentwurfes wird damit (quasi
als Beifang) zumindest auf die Impfung gegen Mumps und Röteln ausgeweitet,
ohne dass insoweit die Grundrechtsbeschränkung ausdrücklich geregelt wird.“131
Diese Ausweitungs- bzw. Entgrenzungstendenz (→ Rn. 120, 221), die das Grundrecht aus
körperliche Unversehrtheit besonders intensiv betrifft (→ Rn. 151 a.E.), steigert die Wesentlichkeitsanforderungen;
gemessen daran sind diese massiven Ausweitungsoptionen nicht eindeutig
genug geregelt. Daher ist die Regelung wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 3
i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (Wesentlichkeit) verfassungswidrig.
131 BR-Drucks. 358/1/19, S. 32.
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e) Verhältnismäßigkeit
aa) Kriterien
Die Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs setzt voraus, dass mit der gesetzlichen
Regelung, die den Grundrechtseingriff bewirkt, ein verfassungsrechtlich legitimer Regelungszweck
bzw. – was dasselbe meint – ein verfassungsrechtlich legitimes Regelungsziel verfolgt
wird.132 Hierbei gilt:
Dem „Gesetzgeber [steht] nicht nur bei der Festlegung der von ihm ins Auge gefassten
Regelungsziele, sondern auch bei der Beurteilung dessen, was er zur Verwirklichung
dieser Ziele für geeignet und erforderlich halten darf, ein weiter Einschätzungs-
und Prognosespielraum zu […], der vom Bundesverfassungsgericht
je nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich
ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der auf dem Spiel stehenden
Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann […]. Bei der Einschätzung
von Gefahren, die der Allgemeinheit drohen, und bei der Beurteilung
der Maßnahmen, die der Verhütung und Bewältigung dieser Gefahren dienen sollen,
ist der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers erst überschritten, wenn die
gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine
Grundlage für derartige Maßnahmen abgeben können […].“133
Das „fehl“ in „fehlsam“ meint, „dass etwas als fehlerhaft, verfehlt oder falsch angesehen
wird“134, u.U. auch deswegen, weil etwas gar nicht gesehen wurde, obgleich es vernünftigerweise,
135 also bei unbefangener Sicht auf die sorgfältig ausgewerteten Informationen zum in
Rede stehenden Sachbereich, hätte gesehen werden müssen, weil es sich aufdrängt. In diesem
Sinne trifft den Gesetzgeber eine Obliegenheit zur Auseinandersetzung mit den zum jeweili-
132 Zusf. hierzu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 15. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 116 f.
133 BVerfG, Urt. v. 16.03.2004 – 1 BvR 1778/01 –, BVerfGE 110, 141, juris, Rn. 66. – Kursive Hervorhebungen
hinzugefügt. Anstelle der „Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs“ ist auch von den „Sachgesetzlichkeiten
des betreffenden Gebiets“ die Rede, so etwa BVerfG, Beschl. v. 06.10.201987 – 1 BvR 1086, 1468, 1623/82 –,
BVerfGE 77, 84 (106), juris, Rn. 75.
134 Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), Affix „fehl-“, https://www.dwds.de/wb/fehl- [letzter
Abruf am 11.10.2019].
135 U.a. zur umgangssprachlichen Bedeutung von „vernünftig“ (im Sinne von „wie man es erwartet, ordentlich,
angemessen, gut“) Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), Adjektiv „vernünftig“,
https://www.dwds.de/wb/vernünftig [letzter Abruf am 11.10.2019].
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gen Regelungsproblem verfügbaren fachlichen Informationen und Einschätzungen, die nicht
(selektiv) beachtet oder ignoriert werden dürfen. Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber
verpflichtet wäre, seine Erwägungen in der Gesetzesbegründung vollständig aufzuführen, er
kann die Erwägungen, die seine Gefahreinschätzung und die Beurteilung der gewählten Maßnahmen
zur Verhütung einer Gefahr geleitet haben, auch noch in einem Verfahren vor dem
BVerfG vortragen.136 Allerdings muss er sich zunächst einmal an den Erwägungen festhalten
lassen, die er in der Gesetzesbegründung vorträgt, zumal damit das Grundgerüst seiner Erwägungen
(selbst wenn diese, etwa vor dem BVerfG ergänzt werden) vorgegeben ist. Der weite
Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers ist also kein „Freifahrtschein“ bzw.
keine „Blankovollmacht“ für tatsächliche Annahmen ins Blaue hinein, sondern verpflichtet zu
einer seriösen Ermittlung der relevanten Realitäts- bzw. Wirkungsannahmen, die umso ernster
zu nehmen ist, je intensiver in Grundrechte eingegriffen wird.
bb) Verfassungsrechtlich legitimes Ziel
(1) Drittnütziger Gemeinschaftsschutz (einschl. Individualschutz)
Das Masernschutzgesetz verfolgt einerseits das Ziels Individualschutzes, der sich in erster
Linie, aber eben nicht nur an vulnerable Personen richtet, und andererseits das Ziel des Gemeinschaftsschutzes,
der sich an die gesamte Bevölkerung richtet. Hierzu die Gesetzesbegründung:
„Ziel des Gesetzes ist es, einen besseren individuellen Schutz insbesondere“ –
aber eben nicht nur – „von vulnerablen Personengruppen sowie einen ausreichenden
Gemeinschaftsschutz vor Maserninfektionen zu erreichen“137, und zwar
nur durch „möglichst lückenlosen Impfschutz in der Bevölkerung“138. Weiter
heißt es:
„Impfungen gegen Masern bieten einen vorbeugenden Schutz gegen eine Maserninfektion.
Sie schützen nicht nur das Individuum gegen die Erkrankung (Individu-
136 Vgl. allg. hierzu nur BVerfG, Urt. v. 21.07.2015 – 1 BvF 2/13 –, BVerfGE 140, 65, juris, Rn. 33.
137 BR-Drucks. 358/19, S. 1 f. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
138 BR-Drucks. 358/19, S. 23. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
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alschutz), sondern sie können gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in
der Bevölkerung verhindern, wenn die in der Bevölkerung erreichte Impfquote
hoch genug ist (Gemeinschaftsschutz).“139
„Es besteht […] ein hohes öffentliches Interesse daran, dass die Bevölkerung einen
den Empfehlungen der STIKO entsprechenden Impfschutz hat.“140
Dabei spezifiziert der Gesetzentwurf die Gefahrenlage, indem er feststellt:
„Aktuelle Masernausbrüche verdeutlichen, dass in der Bevölkerung noch Impflücken
bestehen, die der Erreichung der für eine Elimination der Masern erforderlichen
Impfquote entgegenstehen.“141
Als Grund für diese Lücken werden unterschiedliche Gründe genannt, die sich generell auf
(nicht näher unterschiedene) „Personen“ beziehen, aus denen die Bevölkerung besteht.142
D.h.: Der – ausbaubedürftige – Gemeinschaftsschutz (die sog. Herdenimmunität) wird auf
Impflücken zurückgeführt, weshalb die Impfquote in der Bevölkerung angehoben werden
muss. Denn: „Um die Zirkulation von Masern zu verhindern, ist bei mindestens 95 Prozent
der Bevölkerung Immunität erforderlich.“143 (S. hierzu auch → Rn. 190 f.)
Das bedeutet: Verfolgt wird das (Zwischen-)Ziel, Impflücken zu schließen, um damit – als
Hauptziel – den Gemeinschaftsschutz bzw. (was synonym gemeint ist) den „Schutz der öffentlichen
Gesundheit“144 zu erreichen, verstanden als den durch die Impfung der Individuen
vermittelten Schutz. So gesehen, ist der Individualschutz also nur ein Zwischenschritt auf dem
139 BR-Drucks. 358/19, S. 24. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
140 BR-Drucks. 358/19, S. 24. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
141 BR-Drucks. 358/19, S. 24. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
142 BR-Drucks. 358/19, S. 24: „Die Gründe, warum Personen die medizinisch erforderlichen Schutzimpfung
nicht oder – insbesondere hinsichtlich der zweiten Impfung zur Grundimmunisierung im Kindesalter bis zum
Ende des zweiten Lebensjahres – zu spät erhalten, so dass Impflücken und Infektionsketten entstehen, sind vielfältig.
So sind manchen, insbesondere nach 1970 geborenen Personen die Vorteile eines ausreichenden Impfschutzes
nicht bekannt. Andere haben die empfohlene Vervollständigung des Impfschutzes vergessen oder aufgrund
Unsicherheit aufgeschoben. Teilweise besteht auch eine skeptische und kategorisch ablehnende Haltung
gegenüber Impfungen.“
143 BR-Drucks. 358/1/19, S. 1.
144 BR-Drucks. 358/19, S. 2.
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Weg zur Herstellung des Gemeinschaftsschutzes, weil der Schutz der Individuen in ihrer Gesamtheit
Gemeinschaftsschutz schafft. Damit hat die Impfung auch eine drittnützige Wirkung.
145 Sie kommt also nicht nur dem/der Geimpften zugute, sondern anderen Menschen, die
von der staatlich (der Staat sozusagen als zweiter Akteur) angeordneten Impfpflicht profitieren.
Als ergänzendes Ziel des Gemeinschutzes wird auf die Elimination146 der Masern verwiesen,
die sich gewissermaßen als Nebeneffekt einer hohen Impfquote und einer damit bewirkten
hohen Herdenimmunitätsschwelle (Gemeinschaftsschutz) einstellt.147 Hierbei handelt es sich
genaugenommen um einen mitlaufenden Ferneffekt bzw. einen unselbständigen Nebenaspekt
des Ziels „Gemeinschaftsschutz“.
(2) Bekämpfung der Seuchengefahr als Variante der Gefahrenvorsorge (Risikovorsorge)
Das (Haupt-)Ziel des Gemeinschaftsschutzes lässt sich Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zuordnen,
wonach der Staat – das ist in der ständigen Rechtsprechung des BVerfG geklärt – verpflichtet
ist, sich schützend und fördernd vor Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen.148 Dies
lässt sich mit einem Verweis auf das Sozialstaatsprinzip verbinden, denn in der Rechtsprechung
des BVerfG ist ebenfalls geklärt, dass der „Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der
Erkrankung […] in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des
145 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Dritt- bzw. Fremdbezogenheit der individuellen Entscheidung gegen die
Impfung Gassner, Impfzwang und Verfassung: Mit Macht gegen Masern?, Legal Tribune Online (LTO) v.
10.07.2013, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/masern-impfzwang-bahr/ [letzter Abruf am 11.10.2019].
146 „Die Elimination der Masern und Röteln wird von der WHO definiert als eine Unterbrechung einer endemischen
Masern- oder Rötelntransmission über einen Zeitraum von mindestens 36 Monaten nach dem letzten Auftreten
eines endemischen Falles in einer geografischen Region. Eine endemische Transmission bezeichnet das
Auftreten einer kontinuierlichen Infektionskette der Masern- oder Röteln in Deutschland über eine Zeitraum von
12 Monaten oder länger. Als Indikator für einen Fortschritt hinsichtlich der Erreichung der Elimination gilt eine
Masern- oder Rötelninzidenz von unter 1 Fall pro 1.000.000 Einwohner.“ Robert Koch-Institut (RKI), Elimination
der Masern und Röteln, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04.html [letzter
Abruf am 11.10.2019].
147 Wenn die Gesetzesbegründung meint, die Elimination sei das von der WHO „vorgegebene […] Ziel“ (BRDrucks.
358/19, S. 2; s. dazu auch S. 19, S. 24), dann ist das kein mit rechtlicher Verbindlichkeit fixiertes, sondern
ein politisches Ziel; zur Verabschiedung der Resolution bzgl. des „Global Vaccine Action Plan“ durch die
World Health Assembly der WHO am 25.05.2012 siehe
https://www.who.int/immunization/newsroom/global_vaccine_action_plan/en/ [letzter Abruf am 11.10.2019];
zur Verabschiedung von WHO-Resolutionen Kaltenborn/Tröppner, JZ 2017, 745 (748); s. auch Gostin, Global
Health Law, 2014, S. 59 ff., 89 ff., 131 ff.
148 S. nur BVerfG, Beschl. v. 26.07.2016 – 1 BvL 8/15 –, BVerfGE 142, 313, juris, Rn. 68 ff.
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Staates“149 ist. Dazu zählt das BVerfG auch „Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen“
150.
Das Grundgesetz unterscheidet, soweit es um übertragbare Krankheiten geht, nicht zwischen
Risiko und Gefahr, sondern spricht von der „Seuchengefahr“151 und deren „Bekämpfung“,
wozu einhellig auch Maßnahmen zur Verhütung der „Seuche“ – in heutiger Terminologie: der
epidemischen Infektionskrankheit –152 gehören,153 mithin auch präventiv ansetzende Schutzimpfungen.
In der verfassungsrechtswissenschaftlichen Literatur wird z.T. deutlicher zwischen Gefahr
und Risiko unterschieden, wobei „Risiko“ häufig, wenn auch nicht einhellig, so verstanden
wird, dass damit ferne oder unbekannte, bloß denkbare Möglichkeiten einer Schädigung erfasst
werden.154 Der Risikobegriff erfasst somit Ungewissheiten über Lagen und Abläufe, die
dem Gefahrenbegriff, der sich durch (auch geringe) Wahrscheinlichkeiten auszeichnet, vorgelagert
sind.155 Den Unklarheiten über eindeutige Wirkungszusammenhänge hinsichtlich der
Diagnose der Sachlage und/oder der Prognose des Kausalverlaufs bzw. der Wirkungszusammenhänge156
trägt das unterverfassungsrechtliche Infektionsschutzrecht dadurch Rechnung,
dass es Maßnahmen auch bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts vorsieht, der auf die Verursachungsmöglichkeit
abstellt.157 D.h., beim Gefahrenverdacht ist es möglich, dass es wahrscheinlich
zu einer Schädigung kommt,158 etwa bei hochansteckenden Infektionskrankheiten
wie den Masern. Der Realisierung der möglichen Infektionsgefahr kann durch Impfungen
149 BVerfG, Urt. v. 10.06.2009 – 1 BvR 706/08 u.a. –, BVerfGE 123, 186, juris, Rn. 171.
150 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 119.
151 Art. 11 Abs. 2, Art. 13 Abs. 7 GG: „Bekämpfung von Seuchengefahr“.
152 Blanke, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 11 Rn. 39.
153 Vgl. (den Art. 11 Abs. 2 GG ähnlichen Art. 13 Abs. 7 GG: „zur Verhütung dringender Gefahren […], insbesondere
[…] zur Bekämpfung von Seuchengefahr […].“ S. hierzu auch (mit ausdrücklicher Erwähnung des
IfSchG) Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: März 2019, Art. 13 Rn. 135.
154 Trapp, DVBl 2015, 11 (14 f.) – mit Blick auf die Impfproblematik.
155 Vgl. Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 12 f.
156 So zum Begriff des Gefahrenverdachts Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes
Verwaltungsrecht, 2018, S. 11 (99 [Rn. 296]); beispielhaft s. etwa § 9 Abs. 2 Bundes-Bodenschutzgesetz
(BBodSchG); s. hierzu auch Meyer, AöR 136 (2011), 428 (434 ff.).
157 Vgl. etwa § 16 Abs. 1 Satz 1 IfSchG, außerdem hierzu Rixen, Befugnisse und Grenzen des staatlichen Infektionsschutzrechts.
In: Michael Kloepfer (Hrsg.), Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011,
S. 67 (75 f.).
158 Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 11 (98
[Rn. 295]).
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vorgebeugt werden. Sie sind demnach Maßnahmen der Gefahren(realisierungs)vorsorge.
Angesichts der Terminologie des Grundgesetzes, das von „Seuchengefahr“ spricht, soll demnach
hier von „Gefahrenvorsorge“ die Rede sein; „Risikovorsorge“ wird als Synonym verwendet.
Demnach verfolgt das Masernschutzgesetz mit einem auf die Herstellung impflückenschließenden
Gemeinschaftsschutzes (einschl. des Individualschutzes, → Rn. 159, 165) im Interesse
der Gefahren(realisierungs)vorsorge ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel.159 (Zum „Fokus“
dieses Ziels aus Sicht des Gesetzgebers → Rn. 190 f.)
cc) Geeignetheit
(1) Kriterien, insb. die bei der Abwägung auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter
Für die „Geeignetheit“ eines Gesetzes im spezifisch verfassungsrechtlichen Sinne reicht es
aus, wenn durch die Regelung, die in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift, der gewünschte
Erfolg gefördert werden kann; es genügt mithin bereits die Möglichkeit einer Zweckerreichung,
also, dass die Regelung zur Erreichung des Regelungszwecks etwas beiträgt.160
Das sind, für sich betrachtet, keine hohen Hürden. Wenn zudem bedacht wird, dass für die
Geeignetheit, wie dargelegt, ein Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers gilt,
dieser also nicht schlechterdings unvertretbare Wirkungsannahmen bezüglich der Zweck-
Mittel-Relation zugrunde legen darf (→ Rn. 155, 171), dann wird deutlich, dass das Kriterium
der Geeignetheit die Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) des demokratischen Gesetzgeber
nicht allzu strikt umsetzt.
Soweit es um die auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter geht (→ Rn. 155), ist neben deren
Gewicht auch die Eingriffsintensität zu bedenken.161
159 So – allg. für Impfungen – i. Erg. auch Trapp, DVBl 2015, 11 (16).
160 Vgl. – am Beispiel des Rauchverbots – BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121,
317, juris, Rn. 114.
161 Allg. zur Bedeutung der Eingriffsintensität s. etwa BVerfG, Beschl. v. 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02 –, BVerfGE
113, 29, juris, Rn. 107; BVerfG, Beschl. v. 18. 04.2018 – 2 BvR 883/17 –, GesR 2018, 459, juris, Rn. 43.
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Auf der einen Seite steht das mittels des Gemeinschaftsschutzes verfolgte Ziel, Maserninfektionen
zu vermeiden und damit das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG) der betreffenden, ungeimpften Personen zu schützen. Würden sie an Masern erkranken,
dann ist es zwar so, dass die überwiegende Mehrzahl der in Deutschland betroffenen
an Masern Erkrankten die Masern binnen wenigen Wochen ohne merkliche, dauerhafte Folgeerscheinungen
überwindet, gleichwohl können schon im „normalen“ Krankheitsverlauf bei
Betroffenen ohne gesundheitliche Vorschädigung und in einem Umfeld mit guter Gesundheitsversorgung
eine Reihe von Komplikationen auftreten.162 Bei 7 bis 9 Prozent der erkrankten
Kinder kommt es zu einer Mittelohrentzündung, bei 8 Prozent zu Durchfall und bei 1 bis 6
Prozent zu einer Lungenentzündung. Bei etwa 0,1 Prozent der Maserninfizierten kommt es zu
einer postinfektiösen Enzephalitis (Entzündung des Gehirns), an der 10 bis 20 Prozent der
Betroffenen versterben und die bei weiteren 20 bis 30 Prozent dauerhafte, teils schwerste
Hirnschädigungen hinterlässt. Als Spätkomplikation einer Masernerkrankung kann sich nach
mehreren Jahren der Viruspersistenz im zentralen Nervensystem die subakute sklerosierende
Panenzephalitis (SSPE) ausprägen, die nahezu immer zum Tod führt und für die es bislang
keine kurative Behandlungsmöglichkeit gibt. Die Häufigkeit der SSPE unter Maserninfizierten
beträgt in Deutschland laut WHO etwa 1:10.000 bis 1:100.000.163 Die WHO gibt die Häufigkeit
einer Enzephalitis (Hirnentzündung) mit etwa 1:1.000 an.164 Das sind nicht vernachlässigenswerte
Größenordnungen, die allerdings z.T. durch hohe Unwahrscheinlichkeiten gekennzeichnet
sind. Die Lage lässt sich also nicht mit der für das kollektive Gedächtnis mög-
162 Hierzu und zum Folgenden Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 13 f.,
abrufbar unter https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahmeimpfen-
als-pflicht.pdf [letzter Abruf am 11.10.2019].
163 World Health Organization (WHO), Measles vaccines: WHO position paper – April 2017, in: Weekly epidemiological
record, Nr. 17/2017, S. 205 (209),
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/255149/WER9217.pdf;jsessionid=2A218C40238C712F914545
B16D5928A8?sequence=1 [letzter Abruf am 11.10.2019]. – Die Zahlen, auf die sich der Deutsche Ethikrat,
Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 14,
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019] beruft – ebenso Deutscher Bundestag/Wissenschaftliche Dienste, Masernerkrankungen.
Informationen zum Krankheitsbild, zu Behandlungsmöglichkeiten und zu Fragen im Zusammenhang
mit der geplanten Einführung der Impfpflicht, WD 9 - 3000 - 062/19, 30.08.2019, S. 5,
https://www.bundestag.de/resource/blob/660576/712eaf1862d2a3b630b406df4bcbaed2/WD-9-062-19-pdfdata.
pdf [letzter Abruf am 11.10.2019] – sind älter und beruhen zudem auf fachlich umstrittenen Schätzungen,
dazu arznei-telegramm (a-t) 2013; 44: 85-7, https://www.arzneitelegramm.
de/html/htmlcontainer.php3?produktid=085_01&artikel=1310085_01k [letzter Abruf am
11.10.2019].
164 World Health Organization (WHO), Measles vaccines: WHO position paper – April 2017, in: Weekly epidemiological
record, Nr. 17/2017, S. 205 (209),
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/255149/WER9217.pdf;jsessionid=2A218C40238C712F914545
B16D5928A8?sequence=1 [letzter Abruf am 11.10.2019].
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licherweise immer noch prägenden Situation der Pocken vergleichen.165 Anfang des 19. Jahrhunderts
starben im seinerzeit größten deutschen Staat Preußen noch ca. 40.000 Menschen
pro Jahr an den Pocken, die je nach Verlauf innerhalb weniger Tage zum Tod führen konnte.
Die Sterblichkeitsquote lag bei ca. 10-30%. Bei Masern liegt sie in Industrienationen bei 0,01-
0,1% (also 1:1.000 bis 1:10.000).166
Es spricht, wie die wissenschaftliche Diskussion belegt,167 einiges dafür, dass
Krankheitsfälle bei Masern untererfasst, d.h., nicht vollständig erfasst werden. Da
die Todesfälle anhand der erfassten Krankheitsfälle berechnet werden, führt jeder
Todesfall in Relation zu den nicht erfassten Krankheitsfällen zu einer Verzerrung
des Anteils der Todesfälle, der folglich zu hoch bemessen sein könnte.
Überlebende der Pocken trugen meistens schwere und erkennbare, insbesondere sichtbare
Folgeschäden davon. Dieses Ausmaß und diese regelhaft fatalen Folgen hat die Masernerkrankung
nicht. Insofern ist auch der Hinweis in der Gesetzesbegründung168 auf ein Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) 169 aus dem Jahre 1959 irreführend, denn es hatte die
Vereinbarkeit der Impfpflicht mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs.
2 Satz 1 GG) nicht generell für jede Impfpflicht angenommen, sondern nur mit Blick auf die
Pockenschutzimpfung.170 Auf die Masernimpfpflicht kann daher die zur Pockenschutzimpfung
ergangene Entscheidung des BVerwG angesichts der anders gelagerten Gefahrensituati-
165 Das Folgende nach Trapp, DVBl. 2015, 11 mit. weit. Nachw.
166 World Health Organization (WHO), Measles vaccines: WHO position paper – April 2017, in: Weekly epidemiological
record, Nr. 17/2017, S. 205 (209),
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/255149/WER9217.pdf;jsessionid=2A218C40238C712F914545
B16D5928A8?sequence=1 [letzter Abruf am 11.10.2019].
167 Mette u.a., Untererfassung von Masern, Deutsches Ärzteblatt H. 12/2011, S. 191 ff.,
https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=81466 [letzter Abruf 11.10.2019]; Nationale Verifizierungskommission
Masern/Röteln (NAVKO), Bericht der Nationalen Verifizierungskommission Masern/Röteln zum Stand der Eliminierung
der Masern und Röteln in Deutschland 2013,
http://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/NAVKO/Berichte/Bericht_2013_de.pdf?__blob=publicationFile
[letzter Abruf am 11.10.2019], Takla/Wichmann/Rieck/Matysiak-Klose, Measles incidence and reporting trends
in Germany, 2007–2011, Bulletin of the World Health Organization 2014 92(10): 742-749,
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4208482/pdf/BLT.13.135145.pdf [letzter Abruf am
11.10.2019].
168 BR-Drucks. 358/19, S. 30.
169 BVerwG, Urt. v. 14.07.1959 – I C 170.56 –, BVerwGE 9, 78 = NJW 1959, 2325.
170 Vgl. auch die Beratungen des Parlamentarischen Rates, wonach die Impfung zulässig sein sollte, s. etwa den
Abg. Eberhard: „ […] wir sollten […] die Zwangsimpfung nicht unmöglich machen.“ Und: „Die Impfung dürfen
wir nicht ausschließen.“ Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949,
Akten und Protokolle, Bd. 5/II, 1993, S. 919, s. auch (S. 920) den Hinweis der Abg. Nadig auf die „Pockenimpfung“;
hierzu auch die Zusf. der Debatten in JöR Bd. 1 (1951), S. 60; s. ferner Schaks/Krahnert, MedR 2015,
860 (863).
65
on nicht übertragen werden, wie auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages
zu Recht betont haben.171
Zu Bedenken sind auf der anderen Seite – der Seite des Kindes, das geimpft werden soll – die
oben (→ Rn. 95 ff.) beschriebenen Impfreaktionen und Nebenwirkungen. Sofern die oben
(→ Rn. 95) beschriebenen Impfreaktionen auftreten, handelt es sich regelmäßig um Beeinträchtigungen
im unteren Bereich, während die oben (→ Rn. 96) beschriebenen Nebenwirkungen,
treten sie ein, massive Beeinträchtigungen bedeuten, allerdings bei regelmäßig sehr
hoher Unwahrscheinlichkeit ihres Eintretens. Wie immer ist indes bei statistischen Wahrscheinlichkeiten
zu bedenken, dass damit darüber, wer im Einzelfall davon betroffen sein
wird, noch nichts ausgesagt ist. Wen es trifft, ist schwer vorhersagbar, den oder die es trifft,
trifft es – soweit es um die Nebenwirkungen insbesondere bezogen auf den Maserimpfstoffanteil
der MMR- bzw. MMRV-Kombinationsstoffe geht – regelmäßig massiv. Außerdem ist die
im geplanten Gesetz angelegte Ausweitungs- und Entgrenzungstendenz zu beachten, die es im
Gewand des Wortes „Kombinationsimpfstoff“ gestattet, die Impfpflicht auf zahllose weitere
Krankheiten auszuweiten, soweit diese Neuzusammensetzung bzw. Erweiterung des Kombinationsimpfstoffs
aus Sicht der pharmazeutischen Industrie sinnvoll erscheint (→ Rn. 120,
152). Über diese Nebenwirkungen ist nichts bekannt bzw. kann noch nichts bekannt sein. Der
staatlich gestattete Zugriff auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder wird auch mit Blick
auf die noch unerforschten Nebenwirkungen neuer Kombinationsimpfstoffe massiv ausgeweitet.
Zur Mumpsimpfung bei Mädchen → Rn. 252 ff.
(2) Zweifel an der Geeignetheit, insb. Unsicherheiten über die Infektionswege
Bei der Prüfung der Geeignetheit muss – auch für die hier interessierende Konstellation
(KiTas) – Ausgangspunkt die in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E statuierte Pflicht sein, Impfschutz
(bzw. Immunität) „aufzuweisen“, also, wie oben erläutert (→ Rn. 103), eine Impfung
vorzunehmen. D.h., diese (geplante) gesetzliche Regelung muss als das Mittel, kraft dessen
171 In diesem Sinne auch Kreßner, Gesteuerte Gesundheit, 2019, S. 376; Deutscher Bundestag/Wissenschaftliche
Dienste, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht, WD 3 - 3000 - 019/16, 17.01.2016, S. 5,
https://www.bundestag.de/resource/blob/413560/40484c918e669002c4bb60410a317057/wd-3-019-16-pdfdata.
pdf [letzter Abruf am 11.10.2019]
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66
das Ziel des Gemeinschaftsschutzes (einschl. des Individualschutzes) erreicht werden soll,
betrachtet werden.
Die Ausschüsse des Bundesrates haben deutliche Zweifel an der Geeignetheit auch dieser
Regelung geäußert. Es sei fraglich, ob „mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das erstrebte
Ziel des sogenannten Herdenschutzes überhaupt erreicht werden kann.“172 Es stelle sich nämlich
die Frage,
„ob die vorhandenen Impflücken in der Bevölkerung mit der Beschränkung auf
die Pflichtimpfung von Betreuern und Betreuten in Gemeinschaftseinrichtungen
nach § 33 IfSG und von Personen, die in einer medizinischen Einrichtung nach
§ 23 Absatz 3 Satz 1 IfSG Tätigkeiten mit Kontakt zu Patienten ausüben, wirklich
geschlossen werden können. Angesichts der konstatierten Impflücken bei nach
1970 geborenen Erwachsenen erscheint es wenig plausibel, dass allein eine Impfpflicht
für die in den genannten Bereichen tätigen Erwachsenen ausreicht, um eine
95 prozentige Immunisierung der Gesamtbevölkerung zu erreichen.“173
Auch die STIKO hat (in ihrer Stellungnahme zum Referentenentwurf des Masernschutzgesetzes)
betont:
„Epidemiologisch relevante Impflücken bestehen aktuell insbesondere in den ersten
2-3 Lebensjahren (durch Verschieben von Impfterminen) sowie bei Jugendlichen
und Erwachsenen bis zum 50. Lebensjahr. Durch eine an den Besuch von
Gemeinschaftseinrichtungen gekoppelte Impfpflicht sind diese Zielgruppen nur
teilweise zu erreichen.“174
Mit anderen Worten: „Unter der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland besteht eine weitaus
größere Impflücke als bei Kindern.“175
172 BR-Drucks. 358/1/19, S. 31 a.E.
173 BR-Drucks. 358/1/19, S. 32.
174 Stellungnahme des Vorsitzenden der STIKO, Thomas Mertens v. 18.05.2019, S. 3 f.,
www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/stellungnahmenrefe/
masernschutzgesetz.html [letzter Abruf am 11.10.2019].
175 Höfling, JZ 2019, 776 (778).
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Hinter diesen Überlegungen steht ersichtlich folgender Gedankengang, der das Ziel des Gesetzgebers,
Gemeinschaftsschutz (einschl. des Individualschutzes) in der gesamten Bevölkerung
herzustellen, beim Wort, also ernst nimmt:
Die kontinuierliche Infektionskette, also der Prozess der Transmission von Masernviren, soll
abbrechen. Dies wird erreicht, wenn die Immunität „flächendeckend“176 hergestellt wird, also
– im Falle von Masern – bis zum Erreichen einer sog. Herdenimmunitätsschwelle von 91-
94% der Wohnbevölkerung.177 Das bedeutet, so viele Menschen müssen tatsächlich immun
sein, was bei einer Impfquote (= Durchimpfungsrate) gelingt, die über der Herdenimmunitätsschwelle
liegt (mindestens 95%).178 Das setzt aber voraus, dass es möglichst „keine Orte […]
gibt, die zum Ausgangspunkt für Epidemien werden können, weil es dort eine erhöhte Dichte
an ungeimpften Personen gibt“179, nämlich so viele, dass die Herdenimmunitätsschwelle (und
damit zugleich auch die gebotene Durchimpfungsrate (= Impfquote) unterschritten wird. Masern
– eine der ansteckendsten Krankheiten überhaupt – werden durch das Einatmen infektiöser
Tröpfchen (Sprechen, Husten, Niesen) sowie durch Kontakt mit infektiösen Sekreten aus
Nase oder Rachen übertragen.180 Das Masernvirus führt bereits bei kurzer Exposition – also
nachdem jemand kurz auch bei nur „flüchtige[n] Kontakte[n]“181 den Tröpfchen oder dem
Sekret ausgesetzt war – zu einer Infektion (Kontagiositätsindex182 nahe 100%) und löst bei
über 95% der ungeschützten Infizierten klinische Erscheinungen aus (Manifestationsindex
ebenfalls nahe 100%).183 Zur Inkubationszeit gilt: Von der Exposition bis zum Auftreten des
176 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 10, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
177 Hierzu und zum Folgenden Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 21 f.,
abrufbar unter https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahmeimpfen-
als-pflicht.pdf [letzter Abruf am 11.10.2019].
178 BR-Drucks. 358/19, S. 1.
179 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 10, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019] – bezogen auf die Elimination, die aber – wie erläutert – ein Ferneffekt des Gemeinschaftsschutzes
ist, so dass das Argument generell zum Gemeinschaftsschutz passt.
180 Robert Koch-Institut (RKI), RKI-Ratgeber „Masern“,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html [letzter Abruf am
11.10.2019].
181 BT-Drucks. 18/5261, S. 64 (Begr. zu § 28 IfSchG i.d.F. des Präventionsgesetzes v. 17.07.2015, BGBl. I
S. 1368).
182 Anteil der tatsächlich infizierten an den gegenüber dem Erreger exponierten nicht immunen Personen.
183 RKI-Ratgeber „Masern“,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html [letzter Abruf am
11.10.2019].
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Exanthems gewöhnlich 13-14 Tage (Zeitspanne: 7 bis – sehr selten – 21 Tage). Die Ansteckungsfähigkeit
beginnt bereits 3-5 Tage vor Auftreten des Exanthems (Hautausschlags) und
hält bis vier Tage nach Auftreten des Exanthems an; unmittelbar vor Erscheinen des Exanthems
ist sie am größten.
„Herdenimmunität“ (Gemeinschaftsschutz) kann somit nur gelingen, wenn an möglichst vielen
Orten, an denen es zu Expositionen kommen kann, möglichst viele Menschen bis zum
Erreichen der Durchimpfungsrate geimpft bzw. immun sind mit der Folge, dass sie das Masernvirus
nicht an ungeschützte Personen weitergeben können.
Das heißt zugleich: Je mehr Orte es gibt, an denen ungeimpfte bzw. nicht-immune Personen
auf andere ungeimpfte bzw. nicht immune Personen treffen können und an diesen Orten weder
die für Masern relevante Herdenimmunitätsschwelle erreicht wird noch die Durchimpfungsrate
darüber liegt, desto wahrscheinlicher wird die Übertragung des Maservirus auf ungeschützte
Personen. Anders ausgedrückt: Je flächendeckender alle in Frage kommenden Orte
– und damit die dort lebenden Menschen – geimpft bzw. immun sind, umso wahrscheinlicher
sind ungeimpfte bzw. nicht-immune Menschen gegen Maser geschützt. Je selektiver und lückenhafter
die potentiell in Frage kommenden Orte aber ausgewählt werden und nicht ausgeschlossen
werden kann, dass dort die Herdenimmunitätsschwelle nicht erreicht wird, umso
unwahrscheinlicher wird es, gegen das Masernvirus geschützt zu sein. Das gilt umso mehr,
wenn dieselben Menschen sich, wie üblich, nicht nur an einem Ort, sondern an einer Fülle
von Orten aufhalten, an denen es zur Infektion mit dem Masernvirus kommen kann, weil dort
die Herdenimmunitätsschwelle nicht erreicht wird.
Beispiel: Das ungeimpfte Kind, das von seinen Eltern nachmittags aus der KiTa
(wo alle anderen Kinder geimpft sind) abgeholt wird – wobei die Heimfahrt in einer
mit Erwachsenen vollbesetzen Straßen- oder U-Bahn erfolgt –, wird u.U. einem
Ort ausgesetzt, der Maserinfektionen begünstigt.
Überträgt man diese Überlegung auf die hier in Rede stehende Grundpflicht (§ 20 Abs. 8
Satz 1 IfSchG-E) und die mit ihr letztlich deckungsgleiche (→ Rn. 84 f.) Nachweispflicht
(§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E), die durch die akzessorischen Einhaltungspflichten (→ Rn. 76
ff.) in ihrer Wirkung verstärkt werden, dann stellt sich die Frage, wieso gerade die Impfung in
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185
69
einer Gemeinschaftseinrichtung (KiTa), in der (Klein)Kinder leben, den Gemeinschaftsschutz
in der gesamten Bevölkerung stärken soll.
Die Gesetzesbegründung weist darauf hin, dass es immer wieder zu Masernausbrüchen komme.
184 „Aktuelle Masernausbrüche verdeutlichen, dass in der Bevölkerung noch Impflücken
bestehen, die der Erreichung der für eine Elimination der Masern erforderlichen Impfquote
entgegenstehen.“185 „Allein bis Ende Mai 2019 wurden dem Robert Koch-Institut bereits 420
Masernfälle für das Jahr 2019 gemeldet.“186 Dass es immer wieder zu Masernausbrüchen
kommt, ist nichts Neues, sondern geschieht ständig, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß.
187 Allerdings suggeriert der Hinweis auf die „aktuellen Masernausbrüche“, als sei die
aktuelle Entwicklung etwas Besonderes, was sie indes nicht ist.
So hat es bis einschließlich der 36. KW (erste September-Woche) 2019 insgesamt 485 Masernfälle
in Deutschland gegeben:
Masern im 1. Lebensjahr: 31,
Masern Ein- und Zweijährige: 41,
Masern Drei- bis Fünfjährige: 28,
Masern bis einschl. 14-Jährige: 174 (einschl. der vorgenannten Masernfälle),
Masern 15- bis 17-Jährige: 36,
Masern bei Erwachsenen (ab 18. Jahren): 275.188
Das entspricht – obwohl das Jahr 2019 noch nicht vorbei ist – im Wesentlichen der Altersverteilung
im Jahre 2018: Von den 544 Masernfällen im Jahre 2018 waren zwar häufig Kinder
zwischen 1 und 5 Jahren (insgesamt 97 Personen) sowie insgesamt 257 Personen unter 18
Jahren betroffen, jedoch waren deutlich häufiger Erwachsene betroffen, nämlich ca. 53%
(= 287 Personen).189 D.h., der Anteil der Erwachsenen an den Masernpatienten in Deutsch-
184 BR-Drucks. 358/19, S. 1, S. 12.
185 BR-Drucks. 358/19, S. 24.
186 BR-Drucks. 358/19, S. 12 (ähnl. auch S. 1).
187 Überblick über die Zahlen von 2001 bis 2018 bei RKI,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04_01.html [letzter Abruf am
11.10.2019].
188 Zahlen nach RKI, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/SurvStat/survstat_node.html [letzter Abruf am
11.10.2019]; s. auch BR-Drucks. 358/19, S. 24, zitiert in → Rn. 163 (Fußnote).
189 RKI, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04_01.html [letzter Abruf am
11.10.2019]; s. ferner RKI, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/SurvStat/survstat_node.html
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land ist im Jahr 2019 verglichen mit 2018 noch einmal angestiegen: bis zum Ende der KW 36
sind es ca. 57% (2018 gesamt: ca. 53%).
Angesichts des beachtlichen Anteils an Erwachsenen ab Jahrgang 1970, die nicht geimpft
sind,190 drängt sich die Frage auf, wie der vom (geplanten) Gesetz intendierte Gemeinschaftsschutz
die Erwachsenen erreichen soll, wenn Kinder in KiTas geimpft werden. Außerdem ist
an den Ansatz, den das Gesetz wählt, zu erinnern: Die selektiv auf bestimmte Orte und/oder
Personengruppen fokussierende Aufweisens- und Nachweispflicht (einschl. der Einhaltungspflichten)
setzt das um, was die Gesetzesbegründung so umschreibt:
„Der Fokus liegt […] insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts-
und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen.“
191
„Der dem Gesetz zugrunde liegende Gedanke, dass Personen, die auf engem
Raum aus bestimmten vorgegebenen Sachgründen zusammenkommen, vor einer
Ansteckung durch Impfung zu bewahren sind, muss deshalb folgerichtig auch
hier“– nämlich bei § 20 Abs. 8 IfSchG-E – „Anwendung finden.“192
Wie diese selektive Auswahl von Orten und/oder Personengruppen – auch KiTa-Kindern –
allerdings im Hinblick auf das Gesetzesziel wirkt, also die Impflücken so schließt, dass Gemeinschaftsschutz
(einschl. Individualschutz) entsteht, bleibt unklar, denn an welchen Orten
genau wie viele ungeimpfte – insbesondere ungeimpfte erwachsene – Personen sich aufhalten
bleibt offen, zumal durch die allseits gewünschte und praktizierte auch grenzüberschreitende
Mobilität von einem „konstanten Import der Masern nach Deutschland“193 (auch durch im
Inland lebende Personen, die sich etwa auf Urlaubsreisen begeben oder beruflich veranlasste
Auslandsreisen tätigen müssen),194 auszugehen ist und damit die Einflüsse, die Ungeimpfte
190 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 15, S. 27, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
191 BR-Drucks. 358/19, S. 1. – Kursive Hervorhebung hinzugefügt.
192 BR-Drucks. 358/19, S. 25 (zu § 20 Abs. 8 Nr. 2 IfSchG-E). – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
193 Epidemiologisches Bulletin Nr. 32+33/2019, S. 301.
194 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 22, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
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192
71
ausgesetzt sind, sich nicht auf den – mutmaßlichen – Kontakt zu den Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen,
die das Gesetz im Blick hat, zurückführen lassen.
Trotz dieser Unklarheiten – die allerdings noch bei der Prüfung der Erforderlichkeit und der
Zumutbarkeit eine Rolle spielen werden – ist die Annahme, dass dann, wenn irgendeine ungeimpfte
– nach Alter oder Gesundheitszustand im Falle einer Maserninfektion besonders vulnerable
– Person irgendwo auf möglichst viele geimpfte Personen – auch geimpfte
(Klein)Kinder – trifft, sich der Gemeinschaftsschutz (einschl. des Individualschutzes) steigern
lässt, gemessen an den oben dargelegten verfassungsgerichtlichen Geeignetheitskriterien
(→ Rn. 156) nicht völlig fehlsam bzw. unvertretbar. Auf der Ebene der Geeignetheit im spezifisch
verfassungsrechtlichen Sinne geht es nicht um allzu anspruchsvolle Wirkungszusammenhänge,
sondern um die Möglichkeit, dass nach Lage der Dinge (insbesondere – hier: der
medizinisch-epidemiologischen – Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs) die auch
KiTa-Kinder betreffende Impfpflicht zum Gemeinschaftsschutz (einschl. des Individualschutzes),
also zur Erreichung des Regelungsziels etwas beitragen kann (zu den Kriterien →
Rn. 171). Das ist – trotz aller Zweifel – zu bejahen.
Deshalb ist § 20 Abs. 8 Abs. 1 i.V.m. Abs. 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E (einschl. der an sie
akzessorisch anknüpfenden Einhaltungspflichten) im spezifisch verfassungsrechtlichen Sinne
zwar eine „geeignete“ gesetzliche Regelung, aber allein deshalb noch keine verhältnismäßige
Regelung.
dd) Erforderlichkeit
(1) Kriterien
Ob § 20 Abs. 8 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E (einschließlich der an sie akzessorisch
anknüpfenden Einhaltungspflichten → Rn. 76 ff.) im spezifisch verfassungsrechtlichen
Sinne erforderlich ist, bleibt zu klären.
„Erforderlich“ ist eine gesetzliche Pflicht dann nicht, wenn ein anderes, gleich wirksames,
193
194
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196
72
aber das in Rede stehende Grundrecht weniger einschränkendes Mittel zur Verfügung steht.195
Mit anderen Worten: Es fehlt an der Erforderlichkeit, wenn der Gesetzgeber „ein anderes,
gleich wirksames, aber das Grundrecht weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen
können […].“196 Auch hier ist, wie oben erläutert (→ Rn. 156 f.), der weite Einschätzungsund
Prognosespielraum des Gesetzgebers zu beachten. Dessen Reichweite hängt insbesondere
von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs und den Möglichkeiten, sich ein hinreichend
sicheres Urteil zu bilden abhängt. Dies impliziert, wie dargelegt (→ Rn. 156), eine
Auseinandersetzungsobliegenheit des Gesetzgebers, die ihm abverlangt, alle verfügbaren Informationen
und Einschätzungen, die im fachlichen Diskurs vertreten werden, zur Kenntnis
zu nehmen und zu würdigen. Schließlich muss der Gesetzgeber das Gewicht der in Rede stehenden
Rechtsgüter und die Eingriffsintensität beachten (→ Rn. 173-175). Hierbei muss in
Rechnung gestellt werden, dass es nicht etwa um eine massive Gefährdungslage mit jederzeit
drohenden fatalen Folgen im Falle der Nichtimpfung (wie bei den Pocken) geht und zudem
die möglichen schädigenden Effekte einer Impfung, mögen sie auch statistisch betrachtet,
selten eintreten, wenn sie aber eintreten, massiv schädigend sind (→ Rn. 174).
(2) Durchgreifende Zweifel an der Erforderlichkeit
(a) Erst- und Zweitimpfung, insb.: Darf die medizinische Notwendigkeit der Zweitimpfung
offen gelassen werden?
Zunächst sei daran erinnert, dass – wie dargelegt (→ Rn. 186 f.) – von einer steigenden Belastung
von Kindern durch Maserninfektionen nicht die Rede sein kann; Erwachsene sind, wie
die jüngsten Zahlen belegen, deutlich mehr betroffen. Geht man gleichwohl von der verfassungsrechtlichen
Geeignetheit der in Rede stehenden Regelungen (Pflicht zum Aufweisen und
Nachweisen plus akzessorischer Einhaltungspflichten) aus (→ Rn. 194), dann stellt sich die
Frage, wieso gerade – vermeintlich alternativlos – eine Impfpflicht vonnöten ist, um die
Durchimpfungsrate bei (Klein)Kindern – insb. in KiTas – anzuheben. Hierbei ist zu bedenken,
dass die Erstimpfungsquote – MCV1 –197 (im Jahr 2017 zum Zeitpunkt der Einschulung) bei
97,1% liegt, d.h., in diesem hohen Umfang ermöglichen schon jetzt die Eltern die Impfung;
195 Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 115.
196 BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 – 1 BvL 4/78 –, BVerfGE 61, 291, juris, Rn. 64.
197 MCV1 = Measles-containing-vaccine first-dose.
197
73
die Zweitimpfungsquote – MCV2 –198 hingegen liegt darunter, bei ca. 92,8%.199 Diese Quoten
entsprechen einem stetig nach oben gehenden Trend der letzten Jahre, worauf auf Bund und
Länder in ihrem „Nationalen Aktionsplan“ hinweisen:
„Die verschiedenen Datenquellen belegen, dass im Bereich der Kinderimpfung
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte erzielt hat. Lag
die Impfquote bei den Schuleingangsuntersuchungen im Jahr 2001 für Kinder mit
vorgelegtem Impfausweis noch bei 91,4 % für die 1. Masernimpfung und bei etwa
25,9 % für die 2. Masernimpfung, so waren im Jahr 2013 schon 96,7 % der Kinder
einmalig und 92,6 % zweimal gegen Masern geimpft. Im Jahr 2012 hatten alle
16 Bundesländer eine durchschnittliche Impfquote von über 95 % für die 1. Masernimpfung
erzielt.“200
Entscheidend ist aber dies: In den Hinweisen des RKI zur Masernimpfung finden sich nämlich
folgende Ausführungen, die bemerkenswerter Weise in den Empfehlungen der STIKO
nicht enthalten sind:
„Die empfohlene Zweitimpfung (die keine Auffrischimpfung ist!) soll den Kindern,
die – aus unterschiedlichen Gründen – nach der Erstimpfung keine Immunität
entwickelt haben, eine zweite Gelegenheit zur Entwicklung eines ausreichenden
Schutzes geben. Dies sichert erfahrungsgemäß ein Maximum an Schutz in den
zu impfenden Jahrgängen.“201
Das deckt sich mit der Einschätzung der WHO, die betont:
198 MCV2 = Measles-containing-vaccine second-dose
199 Epidemiologisches Bulletin, Nr. 18/2019, S. 150, ,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2019/Ausgaben/18_19.pdf?__blob=publicationFiles
[letzter Abruf am 11.10.2019]; s. auch Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019,
S. 10 (unter Verweis auf das RKI), abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019]. – Die Zahlen, die der Ethikrat nennt, variieren leicht, bewegen sich aber etwa in
derselben Höhe: 97,4% (auf S. 25), 97% (auf S. 67).
200 Nationaler Aktionsplan 20 15–2020 zur Elimination der Masern und Röteln in Deutschland, hrsgg. v. Bundesministerium
für Gesundheit, Juni 2015, S. 22,
https://www.gmkonline.de/documents/Aktionsplan_Masern_Roeteln_2.pdf [letzter Abruf am 11.10.2019].
201 RKI, RKI-Ratgeber „Masern“, Nr. 1.2,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html#doc2374536bodyText12
[letzter Abruf am 11.10.2019]. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
74
„The second dose is needed to protect children who did not develop protective
immunity after the first dose.“202
Ganz in diesem Sinne belegen Berichte aus der ärztlichen Praxis, dass immer wieder Eltern
nach der MCV1 eine Antikörperbestimmung durchführen lassen und bei bestehender Immunität
entscheiden, auf die Zweitimpfung (MCV2) zu verzichten. Dies schließt das Gesetz nicht
aus, denn es sieht vor, dass eine Impfung nicht mehr geboten ist, wenn Immunität gegen Masern
besteht (§ 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E).203 Wichtig ist: Unter dem Aspekt des Individualschutzes
besteht in diesen Fällen kein medizinischer Grund für eine Zweitimpfung mehr. Sie
würde bei bestehender Immunität vielmehr eine Art nutzlose „Übertherapie“ darstellen, die
zur Erlangung von Immunität gerade nicht erforderlich ist. Allerdings kann die Zweitimpfung
– ohne dass dies für das erstgeimpfte und bereits immune Kind von Nutzen ist – die nach der
Erstimpfung verbleibenden Impflücken minimieren, und zwar so, dass durch sie die Immunität
der mit der Erstimpfung erfolglos Geimpften mit hoher Wahrscheinlichkeit erreicht wird,
in der Folge die Gesamtimmunität der Bevölkerung steigt und somit auch die vulnerablen
Personen, die nicht geimpft werden können, geschützt sind. Das (geplante) Gesetz geht indes
davon aus, dass vermittels der Impfungen der Individualschutz bei der Herstellung des Gemeinschaftsschutzes
zumindest auch immer mitherbeigeführt werden soll (→ Rn. 166). Auf
die u.U. bloß drittnützige Anordnung der Zweitimpfung weisen weder die durch das geplante
Gesetz in Bezug genommenen STIKO-Empfehlungen hin noch weist hierauf das Gesetz an
anderer Stelle hin. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wieso es zur Erreichung des Ziels einer hohen
Durchimpfungsrate (→ Rn. 181) erforderlich sein soll, den Eltern – deren Willensentscheidung
dem nicht-einwilligungsfähigen Kind zugerechnet wird (→ Rn. 94, 203, 260) –
insoweit eine informierte Willensentscheidung vorzuenthalten. Denkbar ist zwar, dass ein
Arzt bzw. eine Ärztin auf die Möglichkeit der Immunitätsbestimmung nach der Erstimpfung
hinweist, aber das Gesetz (durch die Verweisung auf die insoweit schweigsamen STIKOEmpfehlungen)
nimmt in Kauf, dass Ärztinnen und Ärzte, die mit der Problematik nicht näher
vertraut sind, den STIKO-Empfehlungen folgen und einen strikten Mechanismus aus Erstund
Zweitimpfung in Gang setzen, obgleich die Eltern keine Chancen hatten, insoweit eine
eigene Entscheidung darüber zu treffen, was sie ihrem Kind zumuten wollen. Kraft Gesetzes
202 World Health Organization (WHO), Measles vaccines: WHO position paper – April 2017, in: Weekly epidemiological
record, Nr. 17/2017, S. 205 (213),
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/255149/WER9217.pdf;jsessionid=2A218C40238C712F914545
B16D5928A8?sequence=1 [letzter Abruf am 11.10.2019] – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
203 Auf die sog. Titerbestimmung weist der Gesetzentwurf hin, vgl. BR-Drucks. 358/19, S, 27.
75
wird damit dem Kind regelhaft eine Erst- und eine (ggfs. medizinisch unnötige) Zweitimpfung
zugemutet, ohne dass die Eltern als primäre Entscheidungsverantwortliche (→ Rn. 259)
überhaupt die Chance haben, die hinter den STIKO-Empfehlungen stehenden Werturteile und
Abwägungen zu prüfen, um sie sodann abzulehnen oder ihnen zuzustimmen.
Hinzu kommt unter dem Aspekt der Erforderlichkeit Folgendes: Dass Eltern von Kindern, die
durch die Erstimpfung noch nicht immunisiert wurden, die Zweitimpfung unterlassen, kann
kaum damit zusammenhängen, dass Eltern, die ihr Kind zunächst haben impfen lassen (Erstimpfung,
MCV1), es jetzt nicht mehr – im Sinne einer bewussten Impfverweigerung – impfen
lassen wollen.204 Vielmehr bestehen, worauf auch der Deutsche Ethikrat hinweist, neben
fehlender Information „lebenspraktische Hindernisse“,205 zu denen auch die nicht genügende
Ansprache durch Ärztinnen und Ärzte gehört, wenn die Eltern mit den Kindern eine ärztliche
Praxis aufsuchen. Häufig wird die Impfung schlicht vergessen.206 Aufsuchende Impfung (etwa
in der Schule oder der KiTa), Angebote zu Zeiten und an Orten, an denen Menschen, insbesondere
Eltern mit ihren Kindern, leichter erreichbar sind, automatisierte Erinnerungen
bzw. Recall-Systeme (etwa Apps), die an die Fälligkeit von Impfungen, insbesondere der
Zweitimpfung, erinnern, sind Alternativen.207
Demgegenüber begnügt sich die Gesetzesbegründung mit dem Hinweis:
204 Grüner, Biologische Katastrophen, 2017, S. 279 a.E. hält das für ein starkes Indiz für „freiwillige Impfbereitschaft“.
205 Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht? Stellungnahme vom 27.06.2019, S. 67, abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
206 Akademie der Wissenschaften Hamburg/ Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Gemeinsam
Schutz aufbauen. Verhaltenswissenschaftliche Optionen zur stärkeren Inanspruchnahme von Schutzimpfungen,
Vorabdruck Juni 2019, (Autorinnen und Autoren: Cornelia Betsch/Constanze Breuer/Jörg Hacker/Kathrin Happe/
Michael Hecker) S. 6 (kursive Hervorhebungen hinzugefügt),
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Diskussionspapier_Schutzimpfungen_Web.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
207 Akademie der Wissenschaften Hamburg/ Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Gemeinsam
Schutz aufbauen. Verhaltenswissenschaftliche Optionen zur stärkeren Inanspruchnahme von Schutzimpfungen,
Vorabdruck Juni 2019, (Autorinnen und Autoren: Cornelia Betsch/Constanze Breuer/Jörg Hacker/Kathrin Happe/
Michael Hecker) S. 7 (kursive Hervorhebungen hinzugefügt),
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Diskussionspapier_Schutzimpfungen_Web.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
198
199
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„Keine gleich wirksamen [Alternativen], da die bisherigen gesetzgeberischen
Maßnahmen noch nicht zu einem relevanten Rückgang der Maserninfektionen in
Deutschland geführt haben.“208
Mit diesem Satz insinuiert der Gesetzentwurf, die bisherigen gesetzgeberischen Maßnahmen
hätten nicht so effektiv gewirkt wie eine Impfpflicht. Nur ist nicht im Ansatz erkennbar, wie
der Gesetzgeber zu dem Schluss gelangt, den bisherigen Maßnahmen fehle eine (der Impfpflicht
vergleichbare) Wirksamkeit. Ebenso wenig ist erkennbar, wie er zu dem Schluss
kommt, dass andere – bislang noch nicht angewandte – Maßnahmen, die, wie dargelegt
(→ Rn. 198), in der fachlichen Debatte diskutiert werden, nicht ebenso wirksam sind wie eine
Impfpflicht (einschl. aller akzessorischen Einhaltungspflichten).
Solche Betrachtungen liegen umso näher, als – an das Kriterium „Möglichkeiten, sich ein
hinreichend sicheres Urteil zu bilden“ (→ Rn. 155) sei erinnert – in der Fachdiskussion die
Stärkung von informationellen und organisatorischen Maßnahmen favorisiert wird, und zwar
hauptsächlich aus der Sorge, dass eine Impfpflicht – abgesehen von den Schwierigkeiten bei
ihrer Administrierbarkeit, auf die die Ausschüsse des Bundesrates eindringlich hingewiesen
haben – Eltern abschrecken würde, statt sie möglichst frühzeitig einzubinden.209
(b) Wirkungslosigkeit der Beratung vor Aufnahme in die KiTa?
Dass die bislang ergriffenen Maßnahmen nicht gleich wirksam wie die Impfpflicht (in der
spezifischen Ausgestaltung durch das Masernschutzgesetz) sein sollen, ist insbesondere im
Hinblick auf die „Pflichtberatung“210 nach § 34 Abs. 10a IfSchG (→ Rn. 47 f., 60) schwer
nachzuvollziehen.
Die Vorschrift lautet: „1Bei der Erstaufnahme in eine Kindertageseinrichtung ha-
208 BR-Drucks. 358/19, S. 2.
209 Zur Debatte Betsch/Schmid/Korn/Steinmeyer et. al., Impfverhalten psychologisch erklären, messen und verändern,
Bundesgesundheitsblatt 2019, 400 ff.; Akademie der Wissenschaften Hamburg/ Leopoldina – Nationale
Akademie der Wissenschaften, Gemeinsam Schutz aufbauen. Verhaltenswissenschaftliche Optionen zur stärkeren
Inanspruchnahme von Schutzimpfungen, Vorabdruck Juni 2019, (Autorinnen und Autoren: Cornelia Betsch/
Constanze Breuer/Jörg Hacker/Kathrin Happe/Michael Hecker)
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Diskussionspapier_Schutzimpfungen_Web.pdf
[letzter Abruf am 11.10.2019].
210 Kreßner, Gesteuerte Gesundheit, 2019, S. 147.
200
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203
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ben die Personensorgeberechtigten gegenüber dieser einen schriftlichen Nachweis
darüber zu erbringen, dass zeitnah vor der Aufnahme eine ärztliche Beratung in
Bezug auf einen vollständigen, altersgemäßen, nach den Empfehlungen der Ständigen
Impfkommission ausreichenden Impfschutz des Kindes erfolgt ist. 2Wenn
der Nachweis nicht erbracht wird, benachrichtigt die Leitung der Kindertageseinrichtung
das Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die Einrichtung befindet, und
übermittelt dem Gesundheitsamt personenbezogene Angaben. 3Das Gesundheitsamt
kann die Personensorgeberechtigten zu einer Beratung laden. 4Weitergehende
landesrechtliche Regelungen bleiben unberührt.“
Die Vorschrift ist im Wesentlichen am 25.07.2015 in Kraft getreten,211 die Bestimmung über
die Übermittlung der personenbezogenen Angaben an das Gesundheitsamt am 25.07.2017.212
D.h., dass seit Inkrafttreten etwas mehr als zwei Jahre vergangen sind, was für sich betrachtet
keine lange Zeit ist. Überdies ist nicht bekannt, ob die Vorschrift in der Praxis Anwendung
fand, wenn nein, warum nicht, wenn ja, wie oft, und wie sie konkret im Verwaltungsalltag
gelebt wurde und ob diese Informationen geeignet sind, die Einschätzung des Gesetzgebers zu
tragen, dass diese Vorschrift – ggfs. im Zusammenwirken mit anderen Vorschriften – nicht
gleich wirksam wie eine Impfpflicht sei. Von der in § 44 Abs. 7 der „Gemeinsamen Geschäftsordnung
der Bundesregierung“ (GGO) Möglichkeit zu prüfen, „ob die beabsichtigten
Wirkungen erreicht worden sind“, wurde ersichtlich kein Gebrauch gemacht.
Nochmals: Selbstverständlich darf der Gesetzgeber überhaupt zu solch einem Schluss kommen,
allerdings nicht ins Blaue hinein, sondern nur, soweit er die Möglichkeiten, sich ein sicheres
Urteil zu bilden (→ Rn. 155 f.), erkennbar ausgeschöpft hat. Das ist hier nicht der Fall.
In diesem Zusammenhang ist auch auf eine widersprüchliche Argumentation in der Begründung
zum geplanten Masernschutzgesetz hinzuweisen:
Die Begründung weist auf eine (auf Erwachsene, die in einer obersten Bundesbehörde tätig
sind, bezogene) Untersuchung postalischer Informationsangebote zur Masernimpfung hin, die
211 Art. 8 Nr. 5 des Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz –
PrävG) v. 17.07.2015 (BGBl. I S. 1368), zum Inkrafttreten Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes; zur Sachregelung BTDrucks.
18/5261, S. 64 a.E.
212 Art. 1 Nr. 19 Buchst. f des Gesetzes zur Modernisierung der epidemiologischen Überwachung übertragbarer
Krankheiten v. 17.07.2017 (BGBl. I S. 2615), zum Inkrafttreten Art. 10 des Gesetzes; zur Sachregelung BTDrucks.
18/10938, S. 69.
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„eine kausale Wirkung von Informationen in Bezug auf die Inanspruchnahme von
Masernschutzimpfungen belegen [konnte].“213
Dieser Hinweis, der immerhin einen kausalen Effekt von Beratung und Impfquote behauptet,
passt nicht zu dem Hinweis auf die angeblich fehlenden gleich wirksamen Regelungsalternativen.
Mit Blick auf die Güter, die einander gegenüber stehen (→ Rn. 173-175, 196) lässt sich vor
diesem Hintergrund nicht feststellen, dass das geplante Gesetz die Grenzen des für die Erforderlichkeit
geltenden Einschätzungs- und Prognosespielraums einhält. Es ist schon deshalb
nicht erforderlich.
(c) Fachliche Kritik aus den Reihen des RKI, insb. durch den RKI-Präsidenten
Fachliche Kritik, die vom Gesetzentwurf nicht beachtet wurde, kommt z.B. vom Leiter des
Fachgebiets Impfprävention des Robert Koch-Instituts (RKI), der betont hat, eine Pflicht zur
Impfung sei nicht sinnvoll.214 Der Sache nach übereinstimmend, aber noch deutlicher hat sich
der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) – unter der Überschrift „Impfpflicht würde
Masernproblem nicht lösen“ – geäußert:
Auf den ersten Blick scheint eine Impfpflicht die logische Reaktion auf ungenügende
Impfquoten zu sein, ganz unabhängig von der Frage der rechtlichen Umsetzbarkeit.
Auf den zweiten Blick ist sie es aber nicht – im Gegenteil, sie wäre
möglicherweise sogar kontraproduktiv.
Maßgebliche Ursache der Masern-Ausbrüche der vergangenen Jahre sind die großen
Impflücken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Nach Ergebnissen einer
RKI-Studie sind bei den 18- bis 44-Jährigen mehr als 40 Prozent nicht gegen
Masern geimpft. Diese Altersgruppe wird aber bei Forderungen für eine Impfpflicht
nie erwähnt. Vielen ist die Empfehlung der Ständigen Impfkommission
213 BR-Drucks. 358/19, S. 33 a.E.
214 Ole Wichmann, Leiter des FG 33 „Impfprävention“ des RKI, Deutsches Ärzteblatt v. 16.04.2019,
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/102484/RKI-Impfexperte-bezweifelt-Sinnhaftigkeit-von-
Masernimpfpflicht [letzter Abruf am 11.10.2019].
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(STIKO) gar nicht bekannt, dass die nach 1970 Geborenen die Impfung nachholen
oder vervollständigen sollen, wenn keine zwei Impfungen im Impfausweis vermerkt
sind. Die jungen Erwachsenen gehen auch selten zum Arzt. Genau aus diesen
Gründen sind Informationskampagnen und aufsuchende Impfangebote dringend
erforderlich, um diese Impflücke ein für allemal zu schließen.
Skepsis gegenüber Impfungen muss ernst genommen werden, ist aber nicht das
Hauptproblem, sonst gäbe es bei Schulanfängern keine Impfquote von fast 97
Prozent für die erste Masernimpfung. Die Impfquoten bei Schulanfängern sind
bisher im Bundesdurchschnitt auch nicht gesunken, zuletzt allerdings auch nicht
weiter gestiegen. Auch hier ist noch einiges zu tun. Kinder werden auch oft zu
spät geimpft, und es gibt große regionale Unterschiede bei den Impfquoten gerade
in den ersten Lebensjahren. Erinnerungssysteme sind daher auch ein probates Mittel,
um Impfquoten zu erhöhen. Die […] verpflichtende Impfberatung vor dem
Besuch einer Kindertagesstätte und die Impfstatuskontrolle bei den regelmäßigen
Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter wie auch die J1-Untersuchung215 im Jugendalter
sind hier wichtige Bausteine.
[…] Forscher aus Erfurt und Aachen [fanden] heraus, dass eine Impfpflicht die
Impfbereitschaft für die verbliebenen freiwilligen Impfungen deutlich verringern
würde. Offenbar, so vermuten die Wissenschaftler, führt die Einschränkung der
Entscheidungsfreiheit dazu, sich diese bei nächster Gelegenheit ‚zurückzuholen‘.
[…]
Auch Abrechnungshindernisse sollten abgebaut werden, damit jeder Arztkontakt
zum Schließen von Impflücken genutzt werden kann, sodass zum Beispiel der
Kinderarzt die anwesenden Eltern mit impfen kann. Solche rein bürokratischen
Hindernisse stellen fachlich nicht gerechtfertigte Barrieren dar. Und natürlich
brauchen wir motivierte Ärzte, die selbst geimpft sind und jede Gelegenheit nutzen,
um ihre Patienten nach deren Impfpass zu fragen. In Deutschland ist noch eine
Menge Luft nach oben, bevor die drastische Maßnahme einer Impfpflicht in
Erwägung gezogen werden sollte. Machen wir uns nichts vor: Mit stärkerem Wil-
215 Diese Fußnote ist nicht im zitierten Text enthalten: J1-Untersuchung meint die Früherkennungs-Untersuchung
im Alter von 13 bis 14 Jahren gemäß der Jugendgesundheitsuntersuchungs-Richtlinie, https://www.gba.
de/richtlinien/14/ [letzter Abruf am 11.10.2019].
214
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len und mehr Engagement sowie dem Abbau unnötiger Hindernisse sind ausreichende
Impfquoten zu erreichen.“216
Auch der frühere Vorsitzende der STIKO, Jan Leidel, betont:
„Erforderlich wäre die Pflicht, wenn es kein milderes Mittel gäbe, mit dem das
Ziel ebenfalls erreicht werden könnte. Tatsächlich gibt es aber eine Fülle von
durchaus bekannten, bisher aber nicht oder allenfalls halbherzig umgesetzten
Maßnahmen zur Verbesserung der Impfbeteiligung sowie Impfhindernisse, die
zunächst beseitigt werden müssten. Bevor also eine Impfpflicht für Masern diskutiert
wird, sollten die […] Rahmenbedingungen für das Impfen deutlich verbessert
werden.“217
Nicht zuletzt für die Sorge, dass eine Impfpflicht erst Impfnachlässigkeiten (→ Rn. 198) auslösen
könnte, gibt es Nachweise,218 auf die auch der Vorsitzende der STIKO in seiner Stellungnahme
zum Referentenentwurf des Masernschutzgesetzes hingewiesen hat.219 Es ist nicht
erkennbar, dass all diese fachlich begründeten Einwände – u.a. geäußert vom Präsidenten des
RKI als der Fachbehörde des Bundes für den Umgang mit Infektionskrankheiten – geprüft
worden wären, womit der Gesetzentwurf die Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres
Urteil zu bilden (→ Rn. 155 f.), ersichtlich nicht ausgeschöpft.
Wohlgemerkt: Selbstverständlich können die politischen Entscheidungsträger, die Gesetze
vorbereiten, und auch der Gesetzgeber zu anderen Einschätzungen gelangen, aber nur, wenn
sie – wie vom BVerfG verlangt – die bestehenden Möglichkeiten, sich ein hinreichend siche-
216 So der RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler, Ärzte Zeitung Online v. 25.09.2017,
https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/infektionskrankheiten/masern/article/943821/eherkontraproduktiv-
impfpflicht-wuerde-masernproblem-nicht-loesen.html [letzter Abruf am 11.10.2019]. – Kursive
Hervorhebungen hinzugefügt.
217 Leidel (Vorsitzender der STIKO bis März 2017), https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/rapidreaction/
details/news/pflicht-fuer-masernimpfung-in-deutschland/ [letzter Abruf am 11.10.2019].
218 Betsch/Böhm, Detrimental effects of introducing partial compulsory vaccination: experimental evidence, in
The European Journal of Public Health, Vol. 26, No. 3, 2015, 378-381, abrufbar unter
https://academic.oup.com/eurpub/article/26/3/378/2467110 [letzter Abruf am 11.10.2019]; Omer/Betsch/Leask,
Mandante vaccination with care, Nature vol. 571, Juli 2019, 469 ff., https://www.nature.com/articles/d41586-
019-02232-0?utm_source=fbk_nnc&utm_medium=social&utm_campaign=naturenews&sf216086848=1 [letzter
Abruf am 11.10.2019].
219 Stellungnahme des Vorsitzenden der STIKO, Thomas Mertens v. 18.05.2019, S. 4,
www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/stellungnahmenrefe/
masernschutzgesetz.html [letzter Abruf am 11.10.2019].
217
218
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ren Urteil zu bilden (→ Rn. 155 f.), ausgeschöpft haben. Das ist – jedenfalls bislang – nicht so
klar ersichtlich, wie der eine unkonkret bleibende Satz in der Gesetzesbegründung
„Keine gleich wirksamen [Alternativen], da die bisherigen gesetzgeberischen Maßnahmen
noch nicht zu einem relevanten Rückgang der Maserninfektionen in Deutschland
geführt haben.“
suggeriert. Die Impfpflicht kommt mit anderen Worten nur „als ultima ratio in Betracht […].
Zunächst ist die Eigenverantwortung und Eigeninitiative des mündigen Bürgers gefordert“220
bzw. derer die für „unmündige“ – gemeint ist: nicht-einwilligungsfähige – Personen agieren.
Folglich ist die Pflicht, Impfschutz „aufzuweisen“ und nachzuweisen (einschließlich der akzessorischen
Einhaltungspflichten → Rn. 72 ff.) keine erforderliche Beschränkung des
Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder, die KiTas besuchen.
(3) Fehlende Erforderlichkeit insb. mit Blick auf die Steuerung von Kombinationsimpfstoffen
durch die pharmazeutische Industrie
Erst recht sind die Grundrechtseingriffe nicht erforderlich mit Blick auf die Ausweitung der
Impfpflicht infolge der durch die pharmazeutische Industrie steuerbaren Zusammensetzung
von Kombinationsimpfstoffen. Wie dargelegt (→ Rn. 119 ff.), führt die Vorgabe, Kombinationsstoffe
einzusetzen (§ 20 Abs. 8 Satz 2 IfSchG-E), deren Zusammensetzung von der pharmazeutischen
Industrie vorgegeben wird, zu einer dynamischen Verweisung des mit „Kombinationsimpfstoff“
Gemeinten auf die Entwicklungs-, Marketing- und Produktionspläne der
pharmazeutischen Industrie. Auf sie darf der Gesetzgeber jedenfalls nach geltender Rechtslage,
die durch das (geplante) Masernschutzgesetz nicht geändert wird, nicht einwirken. Es ist
nicht erkennbar, wieso zur Erreichung des Ziels, den Gemeinschaftsschutz (einschl. des Individualschutzes)
gegen Masern zu verbessern eine derartige unter der Hand erfolgende Ausweitungstendenz,
ja Entgrenzung (→ Rn. 120, 153) der Impfpflicht erforderlich sein und weniger
einschneidende Maßnahmen – z.B. Verfügbarmachen von Mono-Impfstoffen oder zu-
220 Erdle, IfSchG, Kommentar, 3. Aufl. 2005, Kommentierung zu § 20, Erl. 7, S. 69; s. zum Ultima-Ratio Gedanken
auch Schumacher/Meyn, BSeuchG, Kommentar, 4. Aufl. 1992, Kommentierung zu § 14 BSeuchG, S. 61
(§ 14 Abs. 1 BSeuchG ist das Vorbild für § 20 Abs. 6 IfSchG gewesen, so die Begr. zum IfSchG, BT-Drucks.
14/2530, S. 72).
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82
mindest die Begrenzung der Kombinationsimpfstoffe auf genau bestimmte Infektionskrankheiten
– nicht (mindestens) gleich wirksam sein sollen.
Auch im Hinblick hierauf fehlt es der Pflicht, Impfschutz aufzuweisen und nachzuweisen
(→ Rn. 84 f.), an der Erforderlichkeit.
ee) Zumutbarkeit (Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit i.e.S.)
(1) Unzumutbare Belastung der Kinder durch eine medizinisch nicht notwendige
Zweitimpfung
Eine gesetzliche Regelung, die in ein Grundrecht eingreift, muss bei einer Gesamtabwägung
zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die
Grenze des Zumutbaren wahren.221 Die Regelung darf die Adressaten nicht übermäßig belasten.
222 Das ist mittels einer Gesamtabwägung festzustellen,223 die danach fragt, ob der „an
sich in legitimer Weise angestrebte Schutz zurückstehen muss, wenn das eingesetzte Mittel zu
einer unangemessenen Beeinträchtigung der Rechte des Betroffenen führen würde.“224
Ausgangspunkt der Betrachtung ist der oben schon erläuterte Umstand, dass es um Risikobzw.
Gefahrenvorsorge geht (→ Rn. 167 ff.), die einen hohen Schutzeffekt durch eine Gemeinschaftsschutz
qua Schließung der Impflücken anstrebt (→ Rn. 157 ff.). Hier ist zunächst
der oben bereits unter dem Aspekt der Erforderlichkeit genannte Aspekt einer möglichen
„Übertherapie“ durch eine medizinisch nicht notwendige Zweitimpfung erneut aufzugreifen
(→ Rn. 197): Die Verschleierung des Umstands, dass es Fälle geben kann, in denen die Anordnung
der Zweitimpfung (MCV2) medizinisch nicht notwendig ist und somit einen rein
drittnützigen Zweck hat, greift übermäßig in die Elternverantwortung ein. Sie führt dazu, dass
das erstgeimpfte und immune nicht-einwilligungsfähige Kind, dessen Wille im Rechtssinne
durch die Eltern gebildet wird, für eine rein drittnützige (Zweit-)Impfung instrumentalisiert
wird, ohne dass seine Eltern eine Chance haben, das zu verhindern. Damit – indem der Schutz
221 Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 117.
222 BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 –, NJW 2012, 1062, juris, Rn. 32 (Sonnenstudioverbot).
223 Deutscher Bundestag/Wissenschaftliche Dienste, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht, WD 3
- 3000 - 019/16, 27.01.2016, S. 6,
https://www.bundestag.de/resource/blob/413560/40484c918e669002c4bb60410a317057/wd-3-019-16-pdfdata.
pdf [letzter Abruf am 11.10.2019].
224 BVerfG, Beschl. v. 09.03.1994 – 2 BvL 43/92 u.a. –, BVerfGE 90, 145 (185), juris, Rn. 156 a.E.
222
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der Eltern ausgeschaltet wird – muss das Kind u.U. die Risiken einer (Zweit-)Impfung
(→ Rn. 197) hinnehmen, ohne dass dies durch irgendeinen Individualnutzen (vgl. den Gesetzeszweck,
→ Rn. 166) aufgewogen würde.
(2) Unzumutbarkeit mangels folgerichtig umgesetzten Schutzkonzepts
(a) Keine akute Bedrohungssituation – Strengere Anforderungen an die Zumutbarkeit
Selbst dann aber, wenn Erst- und Zweitimpfung – nämlich bei nicht nach der Erstimpfung
immunen Kindern – durchgeführt werden, ist in Erinnerung zu rufen, dass es an einer akuten
Bedrohungssituation (wie seinerzeit bei den Pocken, → Rn. 174) fehlt. Das erhöht die Anforderungen
an den Staat, eine Impfpflicht anzuordnen, ganz generell. Hierbei können die Wertungen
des § 20 Abs. 6 Satz 1 IfSchG herangezogen werden, wonach Schutzimpfungen für
bedrohte Teile der Bevölkerung in Betracht kommen,
„wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt
und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.“
Epidemie meint eine Erkrankungswelle, die typischerweise mit einer über den Normalzustand
deutlich hinausgehenden Zahl an Erkrankungen einhergeht, die auf eine einheitliche Ursache
zurückzuführen und durch einen (großen) Ausbruch charakterisiert ist, also das plötzliche
vermehrte – lokalisierte oder verstreute – Auftreten von Erkrankungsfällen, die das zu erwartende
Maß dieser Krankheit zu dieser Zeit, an diesem Ort und in dieser Population überschreiten.
225 Angesichts der epidemiologischen Entwicklung (→ Rn. 187 f.) kann davon keine Rede
sein. Das bedeutet aber, dass die Gefährdungssituation, auf die der Gesetzgeber reagieren
will, sich in einen Bereich der Gefahrenvorsorge bewegt, in einem Bereich, der einer erkennbaren
epidemischer Gefährdung deutlich vorgelagert ist. Dies verschiebt die in die Abwägung
einzustellen Größen nochmals zugunsten der in Rede stehenden Freiheitsrechte, hier: des
Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit.
225 Robert Koch-Institut, Infektionsschutz und Infektionsepidemiologie. Fachwörter – Definitionen – Interpretationen,
2015, S. 16 f. (Ausbruch), S. 34 (Epidemie),
http://www.rki.de/DE/Content/Service/Publikationen/Fachwoerterbuch_Infektionsschutz.pdf?__blob=publicatio
nFile [letzter Abruf am 11.10.2019].
224
84
Da nicht klar ist, wer wen wann wie schnell infiziert, ist davon auszugehen, dass ungeimpfte
Menschen, wenn sie auf nicht-geimpfte Menschen treffen, möglicherweise deren Infektion
bewirken. Dass diese sich möglicherweise kurz vorher schon andernorts infiziert haben, ist
indes auch möglich (zum Infektionsweg → Rn. 181). Wenn der Gesetzgeber sich nun entscheidet,
Menschen in bestimmten Situationen (nach Alter und/oder Aufenthaltsort), also
nach Merkmalen in Gruppen (etwa KiTa-Kinder) geordnet, einer Impfpflicht auszusetzen,
dann schafft er eine Verantwortungsbeziehung, die aus medizinisch-epidemiologischer Sicht
nicht zwingend ist, weil der ihr zugrundeliegende medizinische Zurechnungsgrund möglicherweise
nicht besteht – aber vielleicht ja doch.226 Schafft der Gesetzgeber in dieser Lage dennoch
gezielt Verantwortungsbeziehungen zwischen einem Risiko und Menschen (hier: KiTa-
Kindern), denen dieses Risiko als von ihnen gesetzte individualisierbare Gefahr möglicherweise
gar nicht oder nicht allein oder nicht sicher zugerechnet werden kann (zur Begriffsverwendung
Gefahr/Risiko → Rn. 169), und verlagert er auf diese Weise die Eingriffsschwelle
auf einen frühen Zeitpunkt bloß möglicher Verursachung, dann muss diese Verantwortungszuschreibung
so erfolgen, dass die Inpflichtnahme aller, die einer Gruppe möglicher Verursacher
zugeordnet wurden, in gleicher Weise trifft.
D.h., das vom Gesetzgeber gewählte auf die Gruppe bezogene Regelungs- bzw. Schutzkonzept
– genauer: die „Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts“227 – muss
in folgerichtiger Weise umgesetzt werden, weil es die in Rede stehende Belastung mit der
Inpflichtnahme ansonsten unzumutbar verteilt.228 An der Folgerichtigkeit des Schutz- bzw.
Regelungskonzepts229 fehlt es, wenn die Regelungen, die zum Schutzkonzept gehören, „von
verschiedenen Ausnahmetatbeständen durchzogen“230 bzw. durch „weitreichende Ausnahmevorschriften“
231 geprägt sind, mit denen „das Ziel des Gesundheitsschutzes relativiert und
damit teilweise zurückgenommen“232. Mit Ausnahmevorschriften sind Bestimmungen gemeint,
die ausdrücklich oder dem Sinn nach vom Schutzkonzept abweichen. Insoweit gilt:
226 Deshalb passt die argumentative Analogie zur Inanspruchnahme nicht verantwortlicher Personen („Nichtstörer“)
nicht ganz, dazu Grüner, Biologische Katastrophen, 2017, S. 245 a.E.; s. auch Schneider, SGb 2015, 599
(606).
227 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 120.
228 Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 116.
229 Beide Begriffe werden in BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris,
Rn. 120, 135, synonym verwandt.
230 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 135.
231 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 136.
232 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 128.
225
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„Gefahreinschätzungen sind nicht schlüssig, wenn identischen Gefährdungen in demselben
Gesetz unterschiedliches Gewicht beigemessen wird […].“233 In einem solchen Fall steht das
gewählte Regelungsmittel – hier: die Grundpflicht (= Aufweisen des Impfschutzes = herbeiführen
der Impfung) nicht mehr oder doch „kaum noch in einem erkennbaren Zusammenhang“
234 zum Regelungsziel.
Gemessen daran erweist sich die Grundpflicht (Impfpflicht) sowie die Nachweispflicht als
unzumutbare Einschränkung des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit des Kindes ,
und auch die akzessorischen Einhaltungspflichten (→ Rn. 72 ff.) sind unzumutbare Einschränkungen
dieses Grundrechts, denn das auch diese Einhaltungspflichten umfassende
Schutzkonzept der § 20 Abs. 8 ff. IfSchG-E wird von vornherein „löchrig“ bzw. lückenhaft,
also nicht folgerichtig umgesetzt.
(b) Nicht folgerichtig normiertes Verhältnis der KiTas zur Kindertagespflege
Dies ergibt sich zunächst mit Blick auf § 33 Satz 2 Nr. 1 bis 3 IfSchG-E, den § 20 Abs. 8
Satz 1 IfSchG-E in Bezug nimmt. Danach werden Kindertagesstätten (zu denen als Unterfall
auch die Kinderhorte gehören, → Rn. 5) ebenso zu Gemeinschaftseinrichtungen erklärt wie
„die nach § 43 Absatz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch erlaubnispflichtige Kindertagespflege“
(so § 33 Satz 2 Nr. 2 IfSchG-E).
Der Bundesrat moniert, dass die erlaubnispflichtige Kindertagespflege zu den
Gemeinschaftseinrichtungen gezählt werden soll und will auf eine andere gesetzestechnische
Weise sicherstellen, dass die Impfpflicht auch die Kinder in der erlaubnispflichtigen
Kindertagespflege betrifft.235
§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII legt fest:
„Eine Person, die ein Kind oder mehrere Kinder außerhalb des Haushalts des Erziehungsberechtigten
während eines Teils des Tages und mehr als 15 Stunden
233 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317, juris, Rn. 135.
234 Formulierung in BVerfG, Beschl. v. 02.03.2004 –1 BvR 784/03 –, MedR 2005, 35, juris, Rn. 21.
235 BR-Drucks. 358/19 (Beschluss), S. 7 f.
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228
229
86
wöchentlich gegen Entgelt länger als drei Monate betreuen will, bedarf der Erlaubnis.“
(Kursive Hervorhebungen hinzugefügt)
In § 43 Abs. 3 Satz 1 bis 3 SGB VIII heißt es sodann:
„Die Erlaubnis befugt zur Betreuung von bis zu fünf gleichzeitig anwesenden,
fremden Kindern. Im Einzelfall kann die Erlaubnis für eine geringere Zahl von
Kindern erteilt werden. Landesrecht kann bestimmen, dass die Erlaubnis zur Betreuung
von mehr als fünf gleichzeitig anwesenden, fremden Kindern erteilt werden
kann, wenn die Person über eine pädagogische Ausbildung verfügt; in der
Pflegestelle dürfen nicht mehr Kinder betreut werden als in einer vergleichbaren
Gruppe einer Tageseinrichtung.“
§ 43 SGB VIII ist zudem im Zusammenhang mit § 22 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB VIII zu sehen:
„Kindertagespflege wird von einer geeigneten Tagespflegeperson in ihrem Haushalt
oder im Haushalt des Personensorgeberechtigten geleistet. Das Nähere über
die Abgrenzung von Tageseinrichtungen und Kindertagespflege regelt das Landesrecht.
Es kann auch regeln, dass Kindertagespflege in anderen geeigneten
Räumen geleistet wird.“
D.h., Kindertagespflege kann im Haushalt der Tagespflegeperson oder im Haushalt eines Personensorgeberechtigen,
also meist der Eltern, oder – sofern Landesrecht das gestattet – in anderen
geeigneten Räumen stattfinden. Findet sie außerhalb des Haushalts des Erziehungsberechtigten
(der zu den Personensorgeberechtigten gehört, § 7 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 6 SGB VIII)
statt – also ggfs., sofern landesrechtlich zulässig, in angemieteten Räumen –236, dann besteht
(bei Vorliegen der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen!) Erlaubnispflicht, aber auch nur
dann. D.h., es gibt auch nicht-erlaubnispflichtige Kindertagespflege, nämlich immer dann,
wenn sie im Haushalt von Eltern stattfindet.237
Die überwiegende Zahl der Kindertagespflegepersonen – darauf haben der Bundesrat und
236 § 22 Abs. 1 Satz 4 IfSchG-E.
237 Smessaert/Lakies, in: Münder/Meysen/Trenczek (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 8. Aufl.
2019, § 43 Rn. 4, 6.
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233
87
seine Ausschüsse hingewiesen – erfolgt in der eigenen Wohnung der Kindertagespflegeperson,
also außerhalb des Haushalts eines Erziehungsberechtigten (→ Rn. 229), das sind 30.868
Tagespflegepersonen von insgesamt 44.181,238 also ca. 70%; aber 3.561 Kinder werden in der
Wohnung der Kinder, also der Erziehungsberechtigten (Eltern) betreut (die übrigen Kinder
erden in anderen Räumlichkeiten betreut).
Das bedeutet aber, dass ein beachtlicher Teil der Kinder, die in Kindertagespflege betreut
werden, weil sie sich nicht in erlaubnispflichtiger Kindertagespflege (§ 43 Abs. 1 SGB VIII,
→ Rn. 229) befinden, nicht der Impf(herbeiführungs)pflicht nach § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchGE
unterworfen sind, obgleich sie sich in einer vergleichbaren Situation wie Kinder in einer
KiTa befinden, denn wie diese verbringen auch Kinder in nicht-erlaubnispflichtiger Kindertagespflege
auf engem Raum (→ Rn. 191) gemeinsam Zeit.
Wie wenig folgerichtig dieses normative Schutzkonzept ist, zeigt der Umstand, dass von den
167.638 Kindern, die in Kindertagespflege betreut werden, 15.065 Kinder zeitgleich auch
noch in einer KiTa betreut werden (oder eine Ganztagsschule besuchen, die die Funktionen
eines Horts mitübernimmt).239 D.h.: Wenn diese Kinder sich in der KiTa aufhalten, unterliegen
sie der Impfpflicht, wenn sie sich in nicht-erlaubnispflichtiger Kindertagespflege befinden,
unterliegen sie der Impfpflicht nicht.
(c) Nicht folgerichtig normiertes Verhältnis zwischen KiTas, Schulen und sonstigen
Ausbildungseinrichtungen, u.a. bei Aufnahme- bzw. Aufenthaltsverboten
§ 33 Satz 2 Nr. 3 IfSchG-E listet „Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen“ auf. Von
den Schulen werden u.a. die Grundschulen erfasst. Zwar gilt die Pflicht zum „Aufweisen“ von
238 BR-Drucks. 358/1/19, S. 11 a.E.; BR-Drucks. 358/19 (Beschluss), S. 7 a.E.; zu dieser Zahl und den danach
genannten Zahlen Statistisches Bundesamt, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe Kinder und tätige Personen
in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter Kindertagespflege am 01.03.2018, Stand: 17.10.2018, S. 79,
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-
Umwelt/Soziales/Kindertagesbetreuung/Publikationen/Downloads-Kindertagesbetreuung/tageseinrichtungenkindertagespflege-
5225402187004.pdf?__blob=publicationFile [letzter Abruf am 11.10.2019].
239 Statistisches Bundesamt, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen
und in öffentlich geförderter Kindertagespflege am 01.03.2018, Stand: 17.10.2018, S. 80 (152.573 Kinder
sind solche, die nicht zusätzlich eine KiTa oder eine Ganztagsschule besuchen),
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-
Umwelt/Soziales/Kindertagesbetreuung/Publikationen/Downloads-Kindertagesbetreuung/tageseinrichtungenkindertagespflege-
5225402187004.pdf?__blob=publicationFile [letzter Abruf am 11.10.2019].
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236
88
Impfschutz, also zur Herbeiführung und Duldung der Impfung auch für Grundschulkinder,
aber die Einhaltungspflichten (→ Rn. 76 ff.) fallen anders aus. Das Aufnahmeverbot, das von
der Leitung der Einrichtung umzusetzen ist, gilt nicht für schulpflichtige Kinder (§ 20 Abs. 9
Satz 4 IfSchG-E, → Rn. 50). Ebensowenig gilt die Befugnis des Gesundheitsamtes, Aufenthaltsverbote
auszusprechen, wenn Schulpflicht besteht (§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E).
Das KiTa-Aufnahmeverbot gilt zudem nicht für Kinder, die sich bereits am
01.03.2020 in der Kita befinden (→ Rn. 52).
Das ist insofern nicht folgerichtig, als ein Kind z.B. sowohl eine Grundschule als auch einen
Hort, also eine KiTa für Grundschulkinder (→ Rn. 5) besuchen kann. Einmal muss das Kind
aufgenommen werden, ein andermal darf das Kind nicht aufgenommen werden, was insbesondere
dann wenig überzeugt, wenn die jeweiligen Räumlichkeiten im selben Gebäude liegen
bzw. sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Auch kann es z.B. den Fall geben,
dass ein 5jähriges, ungeimpftes Kind in der KiTa nicht anwesend sein darf, während ein Kind,
das bereits als 5jährige/r eingeschult wurde, sich in der Grundschule aufhalten darf, weil es
dort infolge der Schulpflicht nicht vom Unterrichtsbesuch ausgeschlossen werden darf (→ Rn. 61).240 Das ist auch nicht etwa deshalb folgerichtig, weil die Gesetzgebungskompetenz
der Länder für das Schulrecht (vgl. Art. 70 Abs. 1 GG) entgegenstehen könnte. Die Gesetzgebungskompetenz
des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG („Maßnahmen gegen gemeingefährliche
oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“) ist eine querschnittlich angelegte
Gesetzgebungsmaterie ist, die – selbstverständlich – auch in Schulen Anwendung findet,
ebenso wie das ebenfalls auf den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 gestützte Betäubungsmittelgesetz
(BtMG) auch in Schulen gilt. Der Bundesgesetzgeber hält deshalb z.B.
auch Schulbetretungsverbote gemäß § 28 IfSchG für zulässig,241 obgleich auch sie die Umsetzung
der Schulpflicht behindern. Warum das hier, wenn es um die folgerichtige gesetzliche
Ausgestaltung des Aufnahmeverbots im Rahmen des § 20 Abs. 9, 12 IfSchG-E geht, anders
gesehen wird, bleibt unklar.242
Ob ggfs. die Landesschulbehörden die Vorschriften der Landesrechts, die den (ge-
240 Zur dieser Konstellation s. auch BR-Drucks. 358/1/19, S. 15 a.E.
241 Begr. zu § 28 IfSchG, BT-Drucks. 18/52671, S. 64.
242 Insoweit verfängt der Hinweis auf § 28 Abs. 2 IfSchG in der Gegenäußerung der Bundesregierung nicht (BTDrucks
19/13826, zu Nr. 10), weil es um die Folgerichtigkeit des § 20 Abs. 8 ff. IfSchG-E geht; zu weiteren
Gründen, die gegen die Tragfähigkeit des Hinweises der Bundesregierung sprechen, → Rn. 50 (Fußnote).
237
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sundheitsbedingten) Ausschluss vom Unterricht betreffen, so auslegen werden,
dass Grundschulkinder vom Unterricht mangels Impfung ausgeschlossen werden
dürfen, ist zweifelhaft, denn dafür müsste, gemessen an der Wesentlichkeitslehre
des BVerfG (→ Rn. 150 f.), eine hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung erst
noch geschaffen werden.
Schließlich zeigt sich die fehlende Folgerichtigkeit auch mit Blick auf die Variante „sonstige
Ausbildungseinrichtungen“ bzw. die durch das Wort „insbesondere“ (§ 33 Satz 2 IfSchG-E =
§ 33 IfSchG) indizierte Öffnung für nicht benannte Einrichtungen. Was damit gemeint ist, ist
in der Gesetzesbegründung zum derzeitigen § 33 IfSchG, der die Formulierung bereits
kennt,243 ebenso unklar wie in der Literatur, die sich mit dieser Variante, soweit ersichtlich,
kaum beschäftigt. Musikschulen etwa sollen nicht dazu gehören.244 Das kann schon deshalb
nicht überzeugen, weil das Schulrecht der Länder Kooperationen zwischen allgemeinbildenden
Schulen, also auch Grundschulen mit Musikschulen kennt.245 D.h., hier ist ein Austausch
zwischen KiTa-Kindern und anderen, nicht in einer KiTa (oder in der Kindertagespflege) betreuten
Kindern, die ebenfalls Unterricht in der Musikschule erhalten, möglich.
(d) Nicht folgerichtig normierter Dispens vom KiTa-Aufnahmeverbot
Vom KiTa-Aufnahmeverbot „kann“ die zuständige Behörde „allgemeine Ausnahmen zulassen“
(§ 20 Abs. 9 Satz 5 IfSchG-E), unter welchen Voraussetzungen, ist nicht geregelt. In der
Begründung heißt es dazu:
„Dies kommt zum Beispiel in Betracht, wenn der erforderliche Impfschutz wegen
243 Vgl. BT-Drucks. 14/2530, S. 76.
244 Erdle, IfSchG, Kommentar, 3. Aufl. 2005, Kommentierung zu § 33, S. 89; so etwa auch Nr. 1 der Gemeinsamen
Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz
„Vollzug der §§ 33 bis 36 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG)“, https://www.gesetzebayern.
de/Content/Document/BayVwV96841?vi [letzter Abruf am 11.10.2019].
245 § 124 Abs. 4 Schulgesetz Berlin: „Die Musikschulen kooperieren mit den allgemein bildenden Schulen und
mit anderen Bildungs- und Kultureinrichtungen.“ § 5 Abs. 2 Schulgesetz Berlin: „Die Schulen können […] im
Einvernehmen mit der zuständigen Schulbehörde insbesondere Vereinbarungen mit […] den Musikschulen, […]
den Jugendkunstschulen, den Jugendverkehrsschulen, den Gartenarbeitsschulen sowie Sport- und anderen Vereinen
schließen.“
239
240
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Impfstoffmangels nicht erlangt werden konnte oder eine Aufnahme in eine Einrichtung
unaufschiebbar ist.“246 (S. auch → Rn. 51)
Das sind indes nur nicht abschließend gemeinte Beispiele, wobei schon nicht klar ist, was
„unaufschiebbar“ meint bzw. gemessen woran die Aufnahme unaufschiebbar sein soll. Der
Sinn des Aufnahmeverbots ist ja gerade, das in Aufweisens- und Nachweispflicht fundierte
Schutzkonzept umzusetzen, wozu auch – wie oben dargelegt (→ Rn. 25 f., 265) – der Verlust
eines etwaigen KiTa-Platzes ungeachtet der Frage gehört, in welche Betreuungs- bzw. Alltagsbewältigungsnöte
dies die Eltern führt.
Auch der Hinweis auf den Impfstoffmangel irritiert, denn möglicherweise ist nicht nur ein
„Lieferengpass“ gemeint (das Wort wird in der Begründung nicht verwendet), wie ihn das
Paul Ehrlich-Institut versteht,247 sondern die längerfristige Nichtverfügbarkeit des Impfstoffs.
D.h., der Gesetzentwurf hält es offenbar für möglich, dass selbst die gegenwärtig ausschließlich
verfügbaren Kombinationsimpfstoffe nicht verfügbar sind, was die Umsetzung des ganzen
Gesetzes in Frage stellt. Davon abgesehen ist nicht klar, welche weiteren Fälle denn
(„zum Beispiel“) gemeint sein sollen. Da eine Impfpflicht, die mangels faktischer Voraussetzung
(Impfstoff fehlt) nicht umsetzbar ist, auch nicht sinnvoll durchgesetzt werden kann, ist
es in der Tat naheliegend, die Sanktionierung der Impfpflicht durch ein Aufnahmeverbot aufzuheben.
Ob die Rücknahme des zur Pflicht des „Aufweisen“ und Nachweisens akzessorischen
Aufnahmeverbots allein durch eine Verwaltungsentscheidung erfolgen kann, erscheint
schon mit Blick auf die Wesentlichkeitslehre des BVerfG (→ Rn. 150 f.) zweifelhaft, weil die
genauen Voraussetzungen, unter denen der Grundrechtseingriff zurückgenommen werden
kann, unklar sind.
Die Formulierung „allgemeine Ausnahmen“ (§ 20 Abs. 9 Satz 5 IfSchG-E) findet im geltenden
Recht nur selten Verwendung. Meist werden damit Anwendungsausnahmen bezeichnet,
also Bereiche bezeichnet, auf die ein Gesetz nicht anwendbar ist,248 oder es geht um EU-
246 BR-Drucks. 358/19, S. 27. – Kursive Hervorhebungen hinzugefügt.
247 Paul Ehrlich-Institut, „Definition Lieferengpass: Ein Lieferengpass ist definiert als eine über voraussichtlich
zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung des Zulassungsinhabers im üblichen Umfang
oder eine unerwartete, deutlich vermehrte Nachfrage, der vom Zulassungsinhaber nicht angemessen nachgekommen
werden kann.“ https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-denmenschen/
lieferengpaesse/informationen-lieferengpaesse-impfstoffe-node.html [letzter Abruf am 11.10.2019].
248 S. etwa § 3 Grunderwerbssteuergesetz (GrEStG); § 107 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB).
242
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91
rechtlich vorgegebene Regelungsinstrumente.249 Sofern „allgemeine Ausnahmen“ vorgesehen
sind, werden sie durch den Gesetzgeber normalerweise genauer an begrenzende Voraussetzungen
gebunden,250 die sich auch aus der Systematik des Gesetzes ergeben können.251 Aber
auch das bietet hier keinen Anhaltspunkt dafür, die Reichweite der „allgemeinen Ausnahmen“
zu bestimmen. Dass das (geplante) Gesetz kriterienlos allgemeine Ausnahmen gestattet, erlaubt
der zuständigen Behörde, zusammen mit dem gewährten Ermessen („kann“), kaum vorhersehbare
Ausnahmen von der Durchsetzung der Nachweispflicht durch das Aufnahmeverbot
mit der Folge, dass die einheitliche Beachtung der Aufweisens- und der Nachweispflicht
nicht gewährleistet ist (s. auch → Rn. 243).
(e) Nicht folgerichtig normierte Fristen für die Vorlage von Impfnachweisen
Nicht folgerichtig umgesetzt ist das Schutzkonzept auch im Hinblick auf folgende Fristen:
Das (geplante) Gesetz verlangt für Personen, die in Heimen (etwa der Kinder- und Jugendhilfe
betreut werden) gemäß § 33 Satz 2 Nr. 4 IfSchG-E betreut werden oder in einer Einrichtung
gemäß § 36 Abs. 1 Satz Nr. 4 IfSchG („Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung
von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern“)
untergebracht sind, dass sie die Impfung innerhalb einer „vierwöchigen Übergangszeit“
252 aufweisen (§ 20 Abs. 8 Nr. 2 IfSchG-E); es bleibe „den betroffenen Personen unbenommen,
sich bereits vor Ablauf dieser vier Wochen um einen entsprechenden Impfschutz zu
kümmern.“253 Das heißt, sie müssen ihn nicht vorher aufweisen. Den Nachweis müssen sie
zudem erst nach vier weiteren Wochen vorlegen, wobei nicht klar ist, ob dies vom Tag der
249 Vgl. § 6 (amtl. Überschrift „Allgemeine Ausnahmen“) Gefahrgutbeförderungsgesetz (GGBefG), dazu BTDrucks.
13/10158, S. 11; s. auch BT-Drucks. 7/2517, S. 13 f. sowie BT-Drucks. 7/3546, S. 2.
250 S. etwa § 10 Abs. 4 Landesimmissionsschutzgesetz (LImSchG) Brandenburg: „Bei Vorliegen eines öffentlichen
Bedürfnisses oder besonderer örtlicher Verhältnisse können die Gemeinden für Messen, Märkte, Volksfeste,
Volksbelustigungen und ähnliche Veranstaltungen und für die Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar sowie
für die Außengastronomie durch ordnungsbehördliche Verordnung allgemeine Ausnahmen von dem Verbot des
Absatzes 1 zulassen. Ein öffentliches Bedürfnis liegt in der Regel vor, wenn eine Veranstaltung auf historischen
oder kulturellen Umständen beruht oder sonst von besonderer kommunaler Bedeutung ist und deshalb das Interesse
der Allgemeinheit an der Durchführung der Veranstaltung gegenüber dem Schutzbedürfnis der Nachbarschaft
überwiegt.“ (Kursive Hervorhebungen hinzugefügt).
251 Vgl. – zu § 6 Abs. 3 Var. 2 Straßenverkehrsgesetz (StVG) – BVerfG, Beschl. v. 01.04.2014 – 2 BvF 1/12, 2
BvF 3/12 –, BVerfGE 136, 69, juris, Rn. 47 f.
252 BR-Drucks. 358/19, S. 25.
253 BR-Drucks. 358/19, S. 25.
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246
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Impfung an gerechnet wird oder im Anschluss an die Vier-Wochen-Frist des § 20 Abs. 8
Nr. 2 IfSchG-E.
Wer sich indes bei Inkrafttreten des geplanten Gesetzes am 01.03.2020 schon in einem Heim
oder einer Einrichtung befindet, hat Zeit bis zum 31.07.2021, um den Nachweis vorzulegen
(§ 20 Abs. 10 IfSchG-E) – was angesichts des engen Zusammenhangs zwischen Aufweisen
und Nachweisen (→ Rn. 83 ff.) im Ergebnis nicht ausschließt, dass die Impfung erst kurz vor
Ablauf der Frist am 31.07.2021 erfolgt. Dasselbe gilt für KiTa-Kinder, die sich am
01.03.2020 bereits in einer KiTa befinden und den Nachweis bis 31.07.2021 vorlegen müssen
(§ 20 Abs. 10 Satz 1 IfSchG-E), s. dazu auch → Rn. 304.
Hinsichtlich all dieser Fristen (einmal vier Wochen bzw. zweimal vier Wochen sowie Frist
vom 01.03.2020 bis 31.07.2021) stellt sich die Frage, was die Situation in einem Heim der
Kinder- und Jugendhilfe (z.B. einem sog. Kinderheim [§ 34 SGB VIII], in dem z.B. Kleinkinder
im KiTa-Alter leben) so sehr insbesondere von der Situation in einer KiTa unterscheidet,
dass die Personen, die sich bereits vor dem 01.03.2020 in Heim bzw. Einrichtung gemäß § 36
Abs. 1 Nr. 4 IfSchG befinden, vier bzw. acht Wochen, gerechnet ab 01.03.2020, Zeit fürs
„Aufweisen“ des Impfschutzes und seinen Nachweis haben, während KiTa-Kinder, die schon
vor dem 01.03.2020 in der KiTa betreut werden, bzw. ihre Eltern diese Zeit nicht haben. Insbesondere
erschließt sich nicht, wieso KiTa-Kindern, die sich in derselben KiTa befinden
(Kinder, die ab dem 01.30.2020 die KiTa besuchen, und solche, die sich zu diesem Datum
bereits in einer KiTa befinden), unterschiedlich behandelt werden, wo doch der möglichst
lückenlose Gemeinschaftsschutz in der KiTa hergestellt werden soll.
Ebenso kann diese unterschiedliche (Nicht-)Gewährung von Fristen im Hinblick auf Personen
in einem Heim oder in einer Einrichtung nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSchG-E überzeugen. Wieso
sie sechszehn Monate Zeit haben, die Impfung nachzuweisen (und damit vorzunehmen →
Rn. 84), ist unklar. Das Datum wird als Datum genannt, bis zu dem die Gesetzesevaluierung
erfolgt sein muss.254 Wieso überhaupt dieses Datum gewählt wurde, bleibt offen.
254 S. den Hinweis des Nationalen Normenkontrollrats, BR-Drucks. 358/19, Anlage, S. 2: „Das BMG wird den
Umsetzungsstand des Gesetzes nach dem 31. Juli 2021 evaluieren.“ (BMG = Bundesministerium für Gesundheit)
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249
93
(3) Unzumutbarkeit im Hinblick auf die stillschweigende Ausweitung der Impfpflicht
durch Kombinationsimpfstoffe
Nur hilfsweise – da insoweit bereits ein Verstoß gegen die „Wesentlichkeit“ bejaht
(→ Rn. 150 ff.) und die Erforderlichkeit verneint wurde (→ Rn. 222) – ist Folgendes anzumerken:
Die stillschweigende Ausweitung der Impfpflicht ist eine übermäßige Beschränkung des
Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und als solche unzumutbar
(unverhältnismäßig i.e.S.). Die Kinder werden einer durch das (geplante) Gesetz (§ 20
Abs. 8 Satz 2 IfSchG-E) nicht begrenzten Ausweitung der Impfpflicht auf andere Infektionskrankheiten
ausgesetzt, die über die gängigen MMR- oder MMRV-Kombinationsimpfstoffe
(→ Rn. 119) hinausgeht, denn das (geplante) Gesetz überlässt sich hier völlig den Entwicklungs-,
Marketing- und Produktionsplänen der pharmazeutischen Industrie (→ Rn. 120, 221),
die bestehende Kombinationsimpfstoffe zu ändern, insbesondere auch auf andere Krankheiten
zu erstrecken. Damit werden die Kinder einer maßlosen – weil nach normativen Maßstäben
unbegrenzten – Impfpflicht ausgesetzt. Im Lichte von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSchG-E wird die
scheinbar auf den Impfschutz gegen Masern begrenzte Impfpflicht (Impfschutz aufweisen,
§ 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E, → Rn. 84) zu einer Blankettermächtigung, die nach Maßgabe
nicht demokratisch legitimierter materiell Privater (Unternehmen der pharmazeutischen Industrie),
die die Impfstoffverfügbarkeit steuern, letztlich beliebig geändert bzw. ausgeweitet
werden kann (→ Rn. 120 f., 152).
(4) Unzumutbarkeit der Pflichtimpfung auch gegen Mumps für Mädchen (Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG)
Da die gegenwärtig verfügbaren MMR- und MMRV-Impfstoffe (→ Rn. 119) auch die Impfung
gegen Mumps beinhalten, könnte sich die Unzumutbarkeit der Impfpflicht (§ 20 Abs. 8
Satz 1, 2 IfSchG-E), aus einem weiteren Grund ergeben, soweit weibliche Kinder betroffen
sind, die geimpft werden sollen.
Nach den Studien eines internationalen medizinischen Forschungsteams, an dem wesentlich
250
251
252
253
94
Forscher/innen der Harvard Medical School beteiligt gewesen sind,255 gibt es Belege dafür,
dass Frauen, die als Kinder an Mumps erkrankt sind, eine um 19% geringere Wahrscheinlichkeit
aufweisen, an Eierstockkrebs zu erkranken. Eierstockkrebs (Ovarialkarzinom) ist nach
dem Brustkrebs die häufigste tödliche gynäkologische Krebserkrankung.256 Etwa eine von 71
Frauen erkrankt im Laufe ihres Lebens an Eierstockkrebs. Im Jahre 2014 sind 5.354 an Eierstockkrebs
verstorben. 19% von 5.354 sind 1.017 Frauen.
Cramer et al. haben im Jahre 2010 eine Arbeit publiziert, die für diesen Zusammenhang einen
molekularbiologischen Ursachenmechanismus erkannt hat.257 Die Forscher/innen fanden heraus,
dass anders als Menschen ohne Mumpserkrankung Menschen nach mumpsbedingter
Speicheldrüsenentzündung signifikant erhöhte Anti-MUC 1-Antikörper in ihren Sera zeigen.
Die Mumpsimpfung führt nicht zu einer Erhöhung dieser Antikörper, d.h., sie treten nur nach
aktiv durchgemachter Erkrankung (vor allem Speicheldrüsenentzündung) auf. Diese Antikörper
stellen eine plausible Erklärung dafür dar, dass das menschliche Immunsystem Tumorzellen
im Bereich der Eierstöcke, die das Antigen MUC-1 exprimieren, leichter erkennen und
zerstören kann. Dieses MUC-1-Antigen kommt auch in menschlichen Speicheldrüsen vor.
Die Auseinandersetzung mit einer Entzündung der Speicheldrüsen (Mumps) kann mithin – es
gibt allerdings auch Stimmen, die diesen Zusammenhang bestreiten – einen Effekt für die
Fähigkeit des Immunsystems in der Erkennung von Eierstockskrebszellen haben.
Würde eine MMR- bzw. eine MMRV-Impfung (→ Rn. 119) ausnahmslos – also inklusive
Mumps – zur Pflicht gemacht, würde dieser (mögliche) Effekt sich nicht mehr einstellen können.
Zudem würde Forschung, die die Wirkung von Mumps auf die Erkrankungswahrscheinlichkeit
hinsichtlich des Eierstockkrebses weiter klären soll, mit Probandinnen aus Deutschland
unmöglich, denn Studien, die den Zusammenhang erforschen könnten, wären wegen der
flächendeckenden Impfung auch der Mädchen gegen Mumps nicht mehr durchführbar. Damit
wird ihnen aber möglicherweise die durch Forschung weiter zu plausibilisierende Option auf
255 D. W. Cramer/A. F. Vitonis/S. P. Pinheiro/J. R. McKolani/ R. N. Fichorova/K. E. Brown/T. F. Hatchette/O. J.
Finn, Mumps and ovarian cancer: modern interpretation of an historic association, in: Cancer Causes Control 21
(2010), S. 1193-1201, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2951028/pdf/nihms235805.pdf [letzter
Abruf am 11.10.2019].
256 Informationen – auch zu den sogleich genannten Zahlen – beim Zentrum für Krebsregisterdaten (ZfKD) beim
RKI, https://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Krebsarten/Eierstockkrebs/eierstockkrebs_node.html [letzter
Abruf am 11.10.2019].
257 D. W. Cramer/A. F. Vitonis/S. P. Pinheiro/J. R. McKolani/ R. N. Fichorova/K. E. Brown/T. F. Hatchette/O. J.
Finn, Mumps and ovarian cancer: modern interpretation of an historic association, in: Cancer Causes Control 21
(2010), S. 1193-1201, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2951028/pdf/nihms235805.pdf [letzter
Abruf am 11.10.2019].
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eine geringere Wahrscheinlichkeit, an Eierstockkrebs zu erkranken, genommen. Gegenüber
der im Lebenslauf relevanten Chance, nicht zu früh zu sterben, fallen die Vorteile einer
Mumpsimpfung (eine persistierende unilaterale Taubheit tritt bei einem von 20.000 Mumps-
Fällen auf, → Rn. 97) nicht ins Gewicht, erst recht nicht jene Vorteile, die nur für männliche
Kinder gelten können (bei Nichtimpfung droht beim Mumps eine Hodenentzündung [Orchitis]
mit Sterilität im Mannesalter).258
Angesichts der für das Überleben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) relevanten Effekte einer im Kindesalter
erlebte Mumpserkrankung für Frauen, die wegen des überlebensgefährdenden Eierstockkrebs
spezifisch als Frauen betroffen sind und deshalb nicht benachteiligt werden dürfen
(Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG), ist eine ausnahmslos angeordnete Mumps(mit)impfung mit einem
MMR(V)-Kombinationsimpfstoff (→ Rn. 119) eine unzumutbare Beschränkung des Grundrechts
der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der betroffenen Mädchen.
Ein (geplantes) Gesetz, das diese Effekte nicht bedenkt, beschränkt die grundrechtliche Freiheit
mit Blick auf die möglichen Überlebenschancen, die genommen werden, übermäßig.
II. Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG)
Auch das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) könnte verletzt sein.
1. Schutzbereich des Grundrechts
Das BVerfG umschreibt den Schutzbereich des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) wie
folgt:
„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung
ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in die Verantwortung
der Eltern gelegt, wobei dieses ‚natürliche Recht‘ den Eltern nicht vom Staate
verliehen worden ist, sondern von diesem als vorgegebenes Recht anerkannt
wird. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen
Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder
258 Zu den Risiken einer Mumpserkrankung RKI-Ratgeber „Mumps“,
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Mumps.html#doc2374540bodyText8
[letzter Abruf am 11.10.2019].
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gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Diese
primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die
Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden. Dabei
wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss
der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben
getroffenen Erziehungsentscheidung vielleicht vermieden werden könnten
[…]. In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur
der elterlichen Pflege und Erziehung sein […].“259
Vom Elternrecht als Teil der auf auch die Gesundheitsfragen erfassenden „Pflege“260 (vgl. den
Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) sind die Eltern demnach auch befugt zu entscheiden,
ob, inwieweit bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Impfung bzw. Impfungen durchgeführt
werden und ob sie die nötige Einwilligung erteilen (→ Rn. 94, 103).
Vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst ist auch die Frage, wie die Eltern die
außerfamiliale Kinderbetreuung organisieren (etwa in einer KiTa oder in der Kindertagespflege).
261 D.h., die Eltern allein entscheiden, ob und wie lange sie mit Blick auf das von ihnen
favorisierte Beziehungs- und Familienkonzept262 eine bestimmte Form der Kinderbetreuung
mit der Erwerbsarbeit verbinden, mithin auch, wann sie welche Fremdbetreuung für angemessen
oder Eigenbetreuung für vorzugswürdig halten.263
Von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützt wird auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht,264 d.h.,
die Eltern dürfen bestimmen, wo, wann und wie lange sich das minderjährige Kind außerhalb
des Familienhaushalts (etwa in den Räumlichkeiten einer KiTa) aufhält.
Sofern die Eltern, aber auch die Kinder die KiTa nicht betreten dürfen, ist zudem
Art. 11 GG zu prüfen, → Rn. 278 ff.
259 BVerfG, Beschl. v. 29.01.2010 – 1 BvR 374/09 –, NJW 2010, 2333, juris, Rn. 33. – Kursive Hervorhebungen
hinzugefügt.
260 von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 79.
261 Rixen, NJW 2012, 2839; ders., NZFam 2015, 919; ders., BayVBl. 2017, 577 (579); ders., in: Luthe/Nellissen
(Hrsg.), juris-Praxiskommentar (jurisPK) SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 24 Rn. 19.
262 Rixen, NJW 2015, 3136 (3138).
263 Rixen, NZFam 2015, 919.
264 Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: März 2019, Art. 6 Rn. 111; s. auch Durner, in:
Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: März 2019, Art. 11 Rn. 59.
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2. Grundrechtseingriffe
Wie dargelegt (→ Rn. 84, 102), sind die Eltern gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E verpflichtet,
die Impfung des Kindes herbeiführen und hierbei die STIKO-Empfehlungen ebenso zu
befolgen wie die Verwendung von Kombinationsimpfstoff. Damit wird ihnen kraft Gesetzes,
also mittels eines „klassischen“ rechtssatzförmigen Eingriffs, die Befugnis zur Entscheidung
über eine Maßnahme der Gesundheitssorge als Teil der „Pflege“ (→ Rn. 260) im Sinne des
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG genommen, über die sie (gebunden an die Vorgabe, dass Kindeswohl
zu wahren) frei befinden können sollen.265 Mit anderen Worten bestimmt das (geplante) Gesetz
den Inhalt der elterlichen Sorge, ohne die elterliche Vorstellung von elterlicher Sorge
auch nur im Ansatz zu beachten. Das ist nicht bloß eine „Ausgestaltung“ des Kindeswohls,266
sondern eine Beschneidung des grundsätzlichen Interpretationsprimats der Eltern (→ Rn. 259)
in Bezug auf das Kindeswohl.
Dieser Eingriff wird durch die mit der Pflicht zum „Aufweisen“ – als zwei Seiten einer normativen
Medaille (→ Rn. 85) – eng verknüpfte Pflicht zum „Nachweis“ (§ 20 Abs. 9 IfSchGE)
des „Aufweisens“ verstärkt, ferner dadurch, dass die akzessorischen Einhaltungspflichten
den Druck auf die Eltern, der Grundpflicht Folge leisten, erhöhen. Dazu gehört mit der
Pflicht, ein von der KiTa zu beachtendes (§ 20 Abs. 9 Satz 4 IfSchG-E) oder ein vom Gesundheitsamt
ausgesprochenes Aufenthaltsverbot (§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E) zu dulden,
auch der Verlust des Anspruchs auf einen KiTa-Platz (§ 24 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 SGB VIII,
→ Rn. 25 f.).267 Die Gesetzesbegründung stellt – bezogen auf das KiTa-Aufnahmeverbot
(nichts anderes gilt für das seitens des Gesundheitsamts ausgesprochenen Aufenthaltsverbots)
– den Zusammenhang zu § 24 SGB VIII ausdrücklich her.268 Sie stellt also – ohne dass das im
Normtext des § 24 SGB VIII auch nur ansatzweise erkennbar wäre – § 24 SGB VIII unter den
Vorbehalt des Infektionsschutzgesetzes (IfSchG). Die in § 24 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 SGB VIII
geregelten Rechtsansprüche sind gesetzestechnisch als Ansprüche der Kinder ausgestaltet,269
265 So i. Erg. auch Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, 1007 (1010).
266 Hierzu Schaks/Krahnert, MedR 2015, 860 (866) mit weit. Nachw.
267 Dazu Rixen, in: Luthe/Nellissen (Hrsg.), juris-Praxiskommentar (jurisPK) SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 24
Rn. 8, 16 ff., 21 ff.
268 BR-Drucks. 358/19, S. 28.
269 Rixen, in: Luthe/Nellissen (Hrsg.), juris-Praxiskommentar (jurisPK) SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 24 Rn. 8, 16,
21.
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98
aber der BGH hat (unter dem Aspekt der Amtshaftung für § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) klargestelltdass die Anspruchsnorm fremdschützend ist, d.h., auch die Eltern schützt.270 In
grundrechtlicher Perspektive beschränkt der (drohende) Fortfall des Anspruchs auf einen
KiTa-Platz die von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Freiheit der Eltern, über die Art und
Weise der außerfamilialen Betreuung der Kinder zu bestimmen (→ Rn. 261, s. auch Rn. 25
f.).
Abgesehen davon wird kraft Gesetzes in den Bestand des privatrechtlichen271
KiTa-Vertrags eingegriffen, sofern dieser für den Fall eines Aufnahmeverbots
keine Klausel enthält (die Gesetzesbegründung empfiehlt, künftige Betreuungsverträge
unter der aufschiebenden Bedingung eines Impfnachweises zu schließen).
272 Die Freiheit, im Interesse der Erziehung und Pflege des Kindes privatrechtliche
Verträge abzuschließen, wird ebenfalls durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG,
der insoweit gegenüber dem allgemeinen grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit
gemäß Art. 2 Abs. 1 GG als speziellere Garantie Vorrang hat.
Ferner wird der Eingriff in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dadurch verstärkt, dass mit der Pflicht
zum Aufweisen und Nachweisen, wie dargelegt (→ Rn. 264), der Inhalt der elterlichen Sorge
(um)definiert wird, was ggfs. zu familiengerichtlichen Interventionen wegen einer Gefährdung
des Kindeswohls (§§ 1666, 1666a BGB) führen kann (→ Rn. 105).273
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung, insb. „staatliches Wächteramt“, Verhältnismäßigkeit
Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Eingriffe ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 2
GG denkbar.274 Er besagt: „Über ihre“ – der Eltern – „Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“
Dieses sog. staatliche Wächteramt wird vom BVerfG folgendermaßen verstanden:
270 BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15 –, BGHZ 212, 303, juris, Rn. 24 ff., Rn. 35.
271 Lakies/Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 8. Aufl.
2019, § 23 Rn. 53.
272 BR-Drucks. 358/19, S. 28.
273 Allg. zur Relevanz der STIKO-Empfehlungen im Familienrecht BGH, Beschl. v. 03.05.2017 – XII ZB
157/16 –, NJW 2017, 2826, juris, Rn. 25, zur Orientierung am Kindeswohl dort Rn. 15.
266
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99
„Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche
Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht
unter dem besonderen Schutz des Staates […]. Kinder bedürfen des Schutzes und
der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen
Gemeinschaft entwickeln und gesund aufwachsen zu können […]. Das Recht
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf Leben und auf körperliche
Unversehrtheit verpflichten den Staat, Lebensbedingungen des Kindes zu sichern,
die für seine Entwicklung und sein gesundes Aufwachsen erforderlich sind
[…]. Diese Schutzverantwortung für das Kind teilt das Grundgesetz zwischen Eltern
und Staat auf. In erster Linie ist sie den Eltern zugewiesen; nach Art. 6 Abs. 2
Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung die zuvörderst den Eltern obliegende
Pflicht. Dem Staat verbleibt jedoch eine Kontroll- und Sicherungsverantwortung
dafür, dass sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen
Persönlichkeit entwickeln und gesund aufwachsen kann (vgl. BVerfGE
133, 59 <74 Rn. 42>).
Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht
gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen
oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige
Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das ‚Wächteramt des Staates‘
nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zum Tragen. Ist das Kindeswohl gefährdet, ist
der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung
des Kindes sicherzustellen; das Kind hat insoweit einen grundrechtlichen Anspruch
auf den Schutz des Staates […].“275
Zu seiner Rolle neben der Verantwortung der Eltern betont das BVerfG:
Daneben“ – nämlich neben der primären Verantwortung der Eltern aus Art. 6
Abs. 2 Satz 1 GG – „sind dem Staat eigene Pflichten gegenüber den Kindern auf-
274 Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, 1007 (1011).
275 BVerfG, Beschl. v . 03.02.2017 – 1 BvR 2569/16 – NJW 2017, 1295, juris, Rn. 40 f.
269
270
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100
erlegt, die den elterlichen Pflege- und Erziehungsauftrag unterstützen und ergänzen
[…].“276
D.h., der Staat kommt seiner „Kontroll- und Sicherungsverantwortung“277 bzw. seiner „grundrechtliche[
n] Gewährleistungspflicht“278 nur dann in verfassungsrechtlich akzeptabler Weise
nach, wenn er die Primärverantwortung der Eltern – und die hohe Hürde des „staatlichen
Wächteramtes“ (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) – achtet und in Relation zum Ausmaß der in Rede
stehenden Kindeswohlgefährdung Wege wählt, bei denen die Stärkung der elterlichen Kompetenz
im Vordergrund steht und damit deren Einbindung in den ihr Kind betreffenden Entscheidungsprozess
– und nicht ihren Ausschluss – favorisiert wird. Das gilt umso mehr, je
stärker das Kind einer – zumindest auch – drittnützigen (→ Rn. 157, 165) Impfpflicht im
Hinblick auf eine Gefährdungslage ausgesetzt wird, für deren Entstehung und Vermeidung
das Kind, wenn überhaupt, nicht allein verantwortlich gemacht werden kann. Insbesondere in
seiner solchen Situation müssen die staatlichen Maßnahmen darauf gerichtet sein, ein verantwortungsgerechtes
Elternverhalten herbeizuführen.279
Nochmals das BVerfG: Das sog. staatliche Wächteramt gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG bedeutet
„nicht, daß jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit den Staat berechtigt, die Eltern
von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu
übernehmen; vielmehr muß er stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern
Rechnung tragen. Zudem gilt auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Art und Ausmaß des Eingriffs bestimmen sich nach dem Ausmaß des Versagens
der Eltern und danach, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muß
daher nach Möglichkeit zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf
Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens
der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen.“280
276 BVerfG, Urt. v. 19.02.2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 –, BVerfGE 133, 59, juris, Rn. 42 a.E. – Kursive
Hervorhebungen hinzugefügt.
277 BVerfG, Urt. v. 19.02.2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 –, BVerfGE 133, 59, juris, Rn. 42 a.E.
278 BVerfG, Urt. v. 19.02.2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 –, BVerfGE 133, 59, juris, Rn. 42 a.E.
279 Vgl. von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 79.
280 BVerfG, Beschl. v. 29.07.1968 – 1 BvL 20/63 u.a. –, BVerfGE 24, 119 (144 f.), juris, Rn. 59. – Kursive Hervorhebungen
hinzugefügt.
272
273
101
Das bedeutet auch, es ist zu prüfen, ob aus Verhältnismäßigkeitserwägungen ein „elterliche[r]
Einverständnisvorbehalt“ geboten ist.281 Das gilt erst recht mit Blick auf die von der WHO
nur im Hinblick auf die eventuell durch die Erstimpfung (MCV1) noch nicht herbeigeführte
Immunität empfohlene Zweitimpfung (MCV2). Wie dargelegt (→ Rn. 197), ist nicht erkennbar,
wieso die Ausschaltung des Willens der Eltern zur Legitimation einer rein drittnützigen,
für das bereits immunisierte Kind völlig nutzlosen Zweitimpfung zumutbar sein sollte. Im
Gegenteil muss gerade der Schutz der Eltern in einer solchen Situation, in der sie den Sinn der
Intervention prüfen müssen, gewährleistet sein. Bereits deswegen ist die Impfpflicht (einschl.
der an sie anknüpfenden akzessorischen Einhaltungspflichten) eine unzumutbare Beschränkung
des Elternrechts.
Mit Blick auf den Umstand, dass die Erstimpfung von den allermeisten Eltern durchgeführt
wird, sodann aber die Zweitimpfungsquote nachlässt, wurde betont, dass der Grund hierfür
nicht in bewusster Impfverweigerung liegt – warum wäre dann die Erstimpfquote so hoch? –,
sondern in lebenspraktischen Hindernissen, die nicht zuletzt die Vergesslichkeit der Eltern
befördern (→ Rn. 198). Das bloße Nichtdurchführen einer Impfung zum richtigen Zeitpunkt –
der ohnehin strittig ist (siehe die abweichende Empfehlungen der STIKO und der SIKO,
→ Rn. 133 ff., aber auch international)282 – aus Nachlässigkeit (→ Rn. 273) kann keine Kindeswohlgefährdung
in dem Sinne begründen, dass die Fähigkeit der Eltern, kindeswohlgerecht
für ihr Kind zu sorgen, allein deshalb verloren geht und das „staatliche Wächteramt“ –
hier: mittels einer gesetzlich angeordneten Impfpflicht – greift.
Die Ausschaltung der Eltern,
die über die Grundpflicht des § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E und die mit ihr verkoppelte
Nachweispflicht (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E) sowie die akzessorischen
Einhaltungspflichten dazu angehalten werden, dass Kind impfen zu lassen
(→ Rn. 264 ff.),
281 Vgl. – dort auch das Zitat – BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10 –, NJW 2012, 1062, juris,
Rn. 38.
282 Grafische Übersicht über die unterschiedlichen Altersvorgaben in Europa bei der ECDC (European Centre for
Disease Prevention and Control An agency of the European Union), Vaccine Scheduler – Measles: Recommended
vaccinations, https://vaccineschedule.
ecdc.europa.eu/Scheduler/ByDisease?SelectedDiseaseId=8&SelectedCountryIdByDisease=-1 [letzter
Abruf am 11.10.2019].
274
275
276
102
ist nicht erforderlich, weil die Untauglichkeit der Impfberatung nicht dargetan ist (→ Rn. 202
ff.). Die Erforderlichkeit fehlt aber auch mit Blick auf die o.g. Gründe, die gegen die Erforderlichkeit
sprechen: Was die Eingriffe in das Grundrecht der körperlichen Unversehrheit des
Kindes nicht erforderlich macht (→ Rn. 195 ff., insb. Rn. 210, 220), macht sie auch für die
Eltern, die diese Grundrechtseingriffe faktisch bewirken müssen, nicht erforderlich. Das gilt
auch im Hinblick auf die Gründe, die die Grundrechtseingriffe unzumutbar machen
(→ Rn. 223 ff.), insbesondere mit Blick auf das Gebot, sich einer unbegrenzten Kombinationsimpfstoff-
Zusammenstellung – und damit einer unbegrenzten Impfpflicht – auszusetzen
(→ Rn. 250 f.), die zudem die gesundheitlichen Besonderheiten von Frauen in nicht zumutbarer
Weise unberücksichtigt lässt (→ Rn. 252 ff.).
Soweit es um die Aufenthaltsverbote (§ 20 Abs. 9 Satz 4, Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E) geht, sind
diese, wie dargelegt (→ Rn. 236 ff.), mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weder erforderlich
noch unzumutbar, weil sie die Verfassungswidrigkeit der Pflicht zum „Aufweisen“ (§ 20
Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E) und Nachweisen (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E) nur vertiefen bzw.
verstärken. Das gilt auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, weil solche verfassungswidrigen
Gesetze die vom Grundgesetz geschützte Befugnis der Eltern beschränken können,
über den Aufenthalt ihres Kindes zu bestimmen (→ Rn. 262).
III. Freizügigkeit (Art. 11 GG) der Kinder und Eltern
Die Regelungen (→ Rn. 50 ff.) über die Pflicht, ein von der KiTa durchzusetzendes (§ 20
Abs. 9 Satz 4 IfSchG-E, → Rn. 50 ff.) oder ein vom Gesundheitsamt ausgesprochenes Aufenthaltsverbot
(§ 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E, → Rn. 61 ff.), zu beachten, könnten auch
Art. 11 Abs. 1 GG verletzen.
1. Schutzbereich
Art. 11 Abs. 1 GG („Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“), der
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103
sich auch auf Minderjährige bezieht,283
Zur Aufenthaltsbestimmung im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG → Rn. 262.
Für Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 GG sind, ist Art. 2 Abs.1
GG als Auffanggrundrecht heranzuziehen, wobei richtigerweise im Lichte des
EU-rechtlichen Gleichbehandlungsgebots (Art. 18 AEUV) bei EU-Ausländern
und EU-Ausländerinnen die Anforderungen des Art. 11 GG in Art. 2 Abs. 1 GG
„hineinzulesen“, also der Sache bei der Anwendung zu berücksichtigen sind.284
schützt das Recht, unbehindert durch die deutsche Staatsgewalt (insbesondere durch ihr zurechenbare
Gesetze) an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu
nehmen,285 was die Fortbewegung zum Zwecke des Ortswechsels und der Begründung des
Aufenthalts an dem Ort umfasst.286 Aufenthalt meint vorübergehendes Verweilen, wobei eine
gewisse, für die Persönlichkeitsentfaltung erkennbar relevante Dauer, nicht bloß eine flüchtige
Anwesenheit gemeint ist.287
Eine KiTa ist für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ein wichtiger Ort:
§ 22 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII: „Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege
sollen […] die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern […].“
Dort Verweilen die Kinder für einen Teil des Tages in aller Regel mehrmals die Woche, sie
werden dort von den Eltern (oder von diesen beauftragten Personen) hingebracht und abgeholt,
so dass der Ortswechsel der Aufenthaltsbegründung dient. Da die Kinder hierbei von
ihren Eltern unterstützt werden,
283 Durner, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: März 2019, Art. 11 Rn. 58 f.; Blanke, in: Stern/Becker
(Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 11 Rn. 18.
284 Näher hierzu Durner, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: März 2019, Art. 11 Rn. 65.
285 Grdl. BVerfG, Beschl. v. 07.05.1953 – 1 BvL 104/52 –, BVerfGE 2, 266 (Leitsatz 1).
286 Kingreen/Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 35. Aufl 2019, Rn. 917; Blanke, in: Stern/Becker (Hrsg.),
Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 11 Rn. 8, 10.
287 Kingreen/Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 35. Aufl 2019, Rn. 916 (auch mit Darstellung der im Detail
variierenden Argumentation in der Verfassungsrechtslehre).
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282
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284
104
Hinbringen zur KiTa, Begleiten in die Räumlichkeiten, meist den Eingangsbereich
der KiTa, (Verantwortungs-)Übergabe an das KiTa-Betreuungspersonal, Abholen
der Kinder, Entgegennahme in den Räumlichkeiten, meist im Eingangsbereich der
KiTa, (Verantwortungs-)Übergabe durch das KiTa-Betreuungspersonal an die Eltern,
→ Rn. 64
ist ihre Freizügigkeit berührt. Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist eröffnet.
2. Grundrechtseingriffe
Staatlich ausgesprochene Aufenthaltsverbote nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSchG) –
bzw. die gesetzliche Befugnis dazu – gelten als „klassischer“ Fall eines Eingriffs in Art. 11
Abs. 1 GG.288 Nichts anderes gilt für die durch staatliches Gesetz nicht-staatlichen Akteuren
(etwa privaten KiTa-Trägern) eingeräumte Pflicht, Aufenthaltsverbote gegenüber Kindern
und deren Eltern zu befolgen, die keinen Nachweis über eine erfolgte Impfung vorlegen.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die Eingriffe können mit Blick auf das verfassungsrechtlich legitime Ziel der Bekämpfung
der Seuchengefahr (Art. 11 Abs. 2 GG, → Rn. 168) gerechtfertigt sein, wenn sich die Grundrechtseingriffe
auf Gesetze stützen (vgl. den Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 GG), die den oben
erläuterten (→ Rn. 126 ff, 133 ff., 140 ff., 150 ff.) allgemeinen rechtsstaatlich-demokratischen
Anforderungen (Bestimmtheit, Widerspruchsfreiheit, demokratisch legitimiertes Gesetz, Wesentlichkeit)
genügen und nicht unverhältnismäßig sind.
Die Vorschriften über die Aufenthaltsverbote sind als bloß akzessorische Einhaltungspflichten
(→ Rn. 122 ff.) hingegen schon deshalb verfassungswidrig, weil sie sachlich an die verfassungswidrige
Pflicht zum Aufweisen und Nachweisen gekoppelt sind (→ Rn. 84 f. i.V.m.
Rn. 91 f.). Gesetze, die die Durchsetzung verfassungswidriger Pflichten anordnen, sind selbst
verfassungswidrig.
288 Ogorek, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Stand: 15.11.2018, Art. 11 Rn. 36.
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105
Darüber hinaus sind die Aufenthaltsverbote unverhältnismäßig, u.a. weil sie den oben dargelegten
Gründen zur fehlenden Folgerichtigkeit (→ Rn. 224 ff.) nicht genügen:
Bezüglich § 20 Abs. 9 Satz 4 IfSchG-E gilt dies, weil die Regelung über die allgemeinen
Ausnahmen (§ 20 Abs. 9 Satz 5 IfSchG-E), wie erläutert (→ Rn. 243 f.), das Aufenthaltsverbot
zu einer nicht konsequent umsetzbaren – und damit das Schutzkonzept konterkarierenden
– Regelung macht.
Bezüglich § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E gilt dies, weil die Herausnahme der schulpflichtigen
Kinder die Regelung zu einer nicht konsequent umsetzbaren und deshalb unverhältnismäßigen
Vorschrift macht (→ Rn. 236 ff.).
Demnach ist die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) der Kinder und der Eltern verletzt.
IV. Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)
Die Pflichten zur Übermittlung von Daten an das Gesundheitsamt (§ 20 Abs. 9 Satz 6, Abs.
10 Satz 2 IfSchG-E, → Rn. 68 ff.) greifen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
ein, denn danach muss die Leitung der jeweiligen Einrichtung, also auch die Leitung der
KiTa, „personenbezogene Angaben“ übermitteln. Diese Angaben beziehen sich auf das Kind
und auf die Eltern, die gemäß § 20 Abs. 13 IfSchG-E den Nachweis (wie zuvor schon die
Impfung, → Rn. 264) bewirken müssen. Die Datenübermittlung soll die Anwendung der akzessorischen
Einhaltungspflichten (→ Rn. 76, 122 ff.) ermöglichen.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), das
dem minderjährigen Kind und den Eltern gleichermaßen zusteht,289 gewährleistet
„die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung
seiner persönlichen Daten zu bestimmen (BVerfGE 65, 1 <43> […].)“290
Beschränkungen des Grundrechts müssen auf eine gesetzliche Grundlage gestützt
289 Zu Minderjährigen Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: März 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 10.
290 BVerfG, Beschl. v. 24.01.2012 – 1 BvR 1299/05 –, BVerfGE 130, 151, juris, Rn. 122.
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werden, „aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen
klar und für den Bürger erkennbar ergeben […].“291
Wie oben erläutert (→ Rn. 68 f.), ergibt sich aus dem geplanten Gesetz nicht, welche personenbezogenen
Angaben genau zu übermitteln sind. Schon deshalb verletzen die Bestimmungen
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).
Darüber hinaus gilt: Da die Datenübermittlungspflichten sich auf die Durchsetzung der
Nachweispflicht (§ 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E) beziehen, die mit der Pflicht, Impfschutz aufzuweisen
(§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E) wie zwei Seiten einer normativen Medaille eng zusammenhängt
(→ Rn. 83 ff.), und diese Pflicht zum Aufweisen und Nachweisen verfassungswidrig
ist, sind die Datenübermittlungspflichten ebenfalls verfassungswidrig, denn sie
dienen der Durchsetzung verfassungswidriger Regelungen.
V. Gleichheitsrechte der Kinder und Eltern (Art. 3 Abs. 1 GG)
Auch die Gleichbehandlungsrechte (Art. 3 Abs. 1 GG) von Kindern und Eltern könnten verletzt
sein.
1. Maßstab
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich
Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.292
„Eine Norm verletzt danach den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
GG, wenn durch sie eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen
Normadressaten verschieden behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen
keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die
ungleiche Behandlung rechtfertigen können ([…] stRspr).“293
291 BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. –, BVerfGE 65, 1 (44), juris, Rn. 151.
292 BVerfG, Beschl. v. 07.05.2013 – 2 BvR 909/06 u.a. –, BVerfGE 133, 377, juris, Rn. 73.
293 BVerfG, Beschl. v. 07.05.2013 – 2 BvR 909/06 u.a. –, BVerfGE 133, 377, juris, Rn. 76.
293
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2. Ungleichbehandlungen
Ausgangspunkt des Vergleichs ist § 33 Satz 2 IfSchG-E, der sog. Gemeinschaftseinrichtungen
auflistet, die eine ähnliche Betreuungssituation (zahlreiche, insb. junge Menschen an einem
überschaubaren Ort) aufweisen.
Wie oben im Rahmen der Ausführungen zur fehlenden Folgerichtigkeit dargelegt
(→ Rn. 224 ff.), werden (mit ihren Eltern)
- die Kinder, die in einer KiTa betreut werden, nicht ebenso behandelt wie Kinder, die in der
nicht-erlaubnispflichtigen Kindertagespflege betreut werden (→ Rn. 228 ff.), denn in Bezug
auf die nicht-erlaubnispflichtige Kindertagespflege gelten die Grundpflicht (Pflicht, Impfschutz
aufzuweisen, → Rn. 84 f.), die mit der Grundpflicht kongruente Nachweis- und die
akzessorischen Einhaltungspflichten (→ Rn. 122 ff.) nicht;
- die Kinder in KiTas, die unverzüglich bei Neuaufnahme in eine KiTa ab 01.03.2020 (Inkrafttreten
des Gesetzes) geimpft sein müssen und darüber Nachweise vorlegen müssen, nicht
ebenso behandelt wie (u.a. auch) Kinder, die sich in einem Heim oder einer Einrichtung gemäß
§ 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSchG (Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von
Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern) befinden
und die vier bzw. acht Wochen, gerechnet ab 01.03.2020, Zeit haben, Impfschutz (→ Rn. 245
ff.);
- die Kinder in KiTas, die ab 01.03.2020 neu in eine KiTa aufgenommen werden und die ab
diesem Tag Impfschutz auf- bzw. nachweisen müssen, nicht ebenso behandelt wie Kinder, die
sich am 01.03.2020 bereits in einer KiTa befinden, oder Personen, die sich bereits vor dem
01.03.2020 in einem (Kinder-)Heim oder einer Einrichtung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSchG
(Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen,
Flüchtlingen und Spätaussiedlern) befinden und den Nachweis erst am
31.07.2021 vorlegen müssen (→ Rn. 249).
- die Kinder, die in einer KiTa betreut werden, nicht ebenso behandelt wie gleichaltrige, be-
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reits eingeschulte Grundschulkinder (→ Rn. 237), für die zwar die Pflicht zum Aufweisen und
Nachweisen des Impfschutzes bestehen, ohne dass aber die Grundschulkinder mit einem Aufenthaltsverbot
rechnen müssen (§ 20 Abs. 9 Satz 4, Abs. 12 Satz 3 IfSchG-E, → Rn. 50, 236);
zudem werden die Kinder nicht ebenso behandelt wie bereits vor dem 01.03.2020 in einer
KiTa betreute Kinder, die keinem von der KiTa durchgesetzten Aufenthaltsverbot (bzw. Aufenthaltsbeendigungsgebot)
unterliegen (→ Rn. 52, 236).
3. Rechtfertigung
Es ist nicht ersichtlich, was die Ungleichbehandlungen rechtfertigen könnte. Gemessen am
Ziel des (geplanten) Gesetzes, impflückenschließenden Gemeinschaftsschutz (einschl. des
Individualschutzes) dadurch herzustellen, dass bestimmte Gruppen von Menschen an bestimmten
Orten geimpft werden (→ Rn. 157 ff. i.V.m. Rn. 190 f.), erschließt sich nicht, was
die Situation in einer KiTa von der in einer nicht-erlaubnispflichtigen Kindertagesgruppe oder
diese von der Situation in einer erlaubnispflichtigen Kindertagesgruppe unterscheiden soll.
Immer ist eine Gruppe von Menschen (Kinder, Eltern, Betreuungspersonen) an einem bestimmten
Ort aus bestimmten Sachgründen (→ Rn. 191) – nämlich aus Gründen der Kinderbetreuung
– auf engem Raum (→ Rn. 191) zusammengekommen. Das sind die Kriterien, die
die Gesetzesbegründung aufführt (→ Rn. 191) und die auf jede der hier genannten Konstellationen
passt, weil sie sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Das wird besonders
deutlich angesichts des Umstands, dass zahlreihe Kinder eine KiTa und zugleich eine nichterlaubnispflichtige
Kindertagesgruppe besuchen (→ Rn. 235), so dass sie – obgleich sich die
Umstände nur wenig unterscheiden – einmal geimpft, ein andermal nicht geimpft sein müssen.
Soweit es um die unterschiedlichen Fristen geht, erschließt sich nicht, was die jeweiligen Situationen
so wesentlich unterscheidet, dass einmal keine Frist (Neuaufnahme ab 01.03.2020),
ein andermal Fristen von vier bzw. acht Wochen bzw. 16 Monaten gelten (→ Rn. 245 ff.). In
allen Einrichtungen leben typischerweise Kinder (auch) mit anderen Kindern zusammen, so
dass ein fundamentaler Unterschied zur KiTa nicht erkennbar ist. Insbesondere der Fall (§ 20
Abs. 10 Satz 1 IfSchG-E), dass KiTa-Kinder möglicherweise nur wenige Tage vor dem
01.03.2020 aufgenommen wurden, verdeutlicht die nicht tragfähige Unterscheidung. In all
diesen Situationen gilt das Ziel des (geplanten) Gesetzes, lückenlosen Gemeinschaftsschutz
302
303
109
(einschl. des Individualschutzes, → Rn. 157 ff. i.V.m. Rn. 190 f.) in vergleichbaren Gemeinschaftseinrichtungen,
insbesondere in KiTas, herzustellen, was aber durch die (langen) Fristen
gerade zeitweilig unterbleibt.
In diesem Sinne monieren die Ausschüsse des Bundesrates, dass hinsichtlich des
„achtwöchigen Abwartens“ „ein anderer Bewertungsmaßstab angelegt“ werde,
„als bei anderen zur Vorlage des Impfstatus verpflichteten Personen. Die zweimalige
Vierwochenfrist ist nicht nachvollziehbar begründet. Für die Regelung muss
der gleiche Bewertungsmaßstab gelten wie für andere Personen nach § 20 Absatz
9 IfSG.“294
Dass es an einem wesentlichen Unterschied der in Rede stehenden Situationen fehlt, gilt auch
für die Konstellation, dass gleichaltrige Kinder, die sich ab 01.03.2020 in einer KiTa ungeimpft
aufhalten wollen, ein striktes KiTa-Aufenthaltsverbot trifft, was aber für KiTa-Kinder,
die erst bis zum 31.07.2021 den Impfnachweis vorlegen müssen, nicht gilt (→ Rn. 247, 301).
Auch hier stellt sich die Frage, was – gemessen am Ziel des (geplanten) Gesetzes (→ Rn. 157
ff. i.V.m. Rn. 190 f.) – die Situationen so wesentlich unterscheidet, dass einmal die Einhaltung
der Pflicht zum Nachweis der Impfung kraft Aufenthaltsverbot durchgesetzt werden
kann, ein andermal hingegen nicht.
Es hat den Anschein, als wolle der Gesetzentwurf die zivilrechtlichen Konsequenzen, die er
für die privatrechtlichen KiTa-Betreuungsverträge ab 01.03.2020 durchaus im Blick hat
(→ Rn. 266),295 bewusst nicht thematisieren. Das kann aber die Ungleichbehandlung nicht
rechtfertigen, sondern wirft nur die Frage auf, warum in Konstellationen, die im Tatsächlichen
praktisch gleich sind (nur das Datum 01.03.2020 unterscheidet sie), nicht dieselbe Rechtsfolge,
nämlich das Aufenthaltsverbot mit seinen zivilrechtlichen Konsequenzen, gesetzt wird.
Vor diesem Hintergrund verstößt das Masernschutzgesetz auch gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
VI. Ergebnis
294 BR 358/1/19, S. 25.
295 BT-Drucks. 358/19, S. 28.
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110
Die Vorschriften des (geplanten) Masernschutzgesetzes über die Impfpflicht verletzen die
Grundrechte der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (körperliche Unversehrtheit), das Elternrecht
(Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), das Freizügigkeitsrecht der Kinder und der Eltern (Art. 11
Abs. 1 GG), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1
Abs. 1 GG) der Kinder und der Eltern sowie die Gleichheitsrechte der Kinder und der Eltern
(Art. 3 Abs. 1 GG).
307
111
D. Verfassungsrechtliche Bewertung der Grundrechtseingriffe zulasten der Ärztinnen
und Ärzte
Abschließend ist zu klären, ob Ärztinnen und Ärzte (→ Rn. 10 ff.), die Kinder impfen, durch
die Vorschriften des Masernschutzgesetz, die das Infektionsschutzgesetz (IfSchG) ändern (zu
diesem thematischen Fokus des Gutachtens → Rn. 10), in ihren Grundrechten – der Berufsfreiheit
(Art. 12 Abs. 1 GG) und Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) – verletzt werden.
I. Art. 12 Abs. 1 GG
1. Schutzbereich
Gemäß Art. 12 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte
frei zu wählen; die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes
geregelt werden. Das versteht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung als einheitliches
Grundrecht der Berufsfreiheit, das die Berufswahl und – was hier interessiert – die Modalitäten
der Berufsausübung umfasst.
Für Ausländerinnen und Ausländer gilt das zu Art. 11 Abs. 1 GG Ausgeführte
entsprechend → Rn. 281. D.h., für EU-Ausländer gilt Art. 2 Abs. 1 GG, der aber
so interpretiert werden muss, dass er dem Schutzstandard des Art. 12 Abs. 1 GG
entspricht.296
Alle Aspekte, die das „Wie“ der Berufsausübung betreffen, etwa die inhaltlichen Standards,
an denen sich eine Ärztin oder ein Arzt orientiert, werden als sog. ärztliche Therapiefreiheit
(die auch die Diagnostik, neben kurativen auch palliative Maßnahmen oder andere Felder
spezifisch ärztlicher Tätigkeit umfasst) von der Berufsfreiheit geschützt. Geschützt werden
danach die eigenen, wenn auch durch Studium und Ausbildung geprägten professionellen
Ansichten zur Heilkunde,297 wie dies im ärztlichen Berufsrecht der Sache nach auch für das
296 BVerfG, Beschl. v. 04.11.2015 – 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12 –, NJW 2016, 1436, juris, Rn. 11; s. auch
BVerfG, Beschl. v. 24.03.2016 – 2 BvR 1305/10 –, juris, Rn. 22.
297 Orientierung bietet § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz: „Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes ist
jede berufs- […] mäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten,
Leiden oder Körperschäden bei Menschen […].“
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112
Verständnis der ärztlichen Berufsfreiheit treffend zusammengefasst wird.298 Das bedeutet,
dass die gewissenhafte Anwendung der in Studium und Ausbildung erworbenen fachlichen
Qualifikation unter Beachtung des anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse von
der Berufsfreiheit geschützt ist. Das bezieht auch auf den Bereich der Schutzimpfungen als
Teil ärztlicher Tätigkeit, was Information, Beratung und Aufklärung umfasst.299
2. Grundrechtseingriffe (§ 20 Abs. 8 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 IfSchG-E)
Die Pflicht, Impfschutz aufzuweisen bzw. nachzuweisen (idealerweise durch einen Impfausweis,
§ 22 IfSchG-E) lässt sich ohne eine Ärztin oder einen Arzt, der die Impfung vornimmt
und den Nachweis ausstellt, nicht realisieren (→ Rn. 102). Mag die Ärztin bzw. der Arzt in
§ 20 Abs. 8 ff. IfSchG-E auch nicht erwähnt werden, so handelt es sich doch um Pflichten, die
sich auch auf die Ärztin bzw. den Arzt beziehen und deren bzw. dessen Berufsfreiheit regeln.
Per Gesetz wird ihm bzw. ihr, die die Impfung vornehmen (→ Rn. 84) und darüber den
Nachweis ausstellen müssen, zur Pflicht gemacht, die Impfung nach Maßgabe des Abs. 8 Satz
1 und Satz 2 IfSchG-E zu bewirken und sodann zu dokumentieren (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1
i.V.m. § 22 Abs. 1 und 2 IfSchG-E). Ein Recht, die Behandlung gerade wegen der Ablehnung
der fachlichen Gründe, die zur Einführung der Impfpflicht geführt haben, abzulehnen, besteht
regelmäßig nicht.300 Damit wird es ihr bzw. ihm verunmöglicht bzw. erschwert, entsprechend
seinen bzw. ihren Vorstellungen von ärztlich gewissenhaftem Handeln, die vom Schutzbe-
298 § 2 Abs. 3 Musterberufsordnung der Ärztinnen und Ärzte: „Eine gewissenhafte Ausübung des Berufs erfordert
insbesondere die notwendige fachliche Qualifikation und die Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen
Erkenntnisse.“ Abruf unter
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf [letzter
Abruf am 11.10.2019].
299 Hierzu Zuck, MedR 2008, 410 ff.; ders., in: Herbert Schiller/Michael Tsambikakis (Hrsg.), Kriminologie und
Medizinrecht: Festschrift für Gernot Steinhilper, 2013, S. 169 (191 f.); ders., GesR 2016, 673 ff.
300 § 13 Abs. 7 Satz 3 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä): „Der Vertragsarzt darf die Behandlung eines Versicherten
im Übrigen nur in begründeten Fällen ablehnen“ (www.kbv.de/media/sp/BMV_Aerzte.pdf [letzter
Abruf am 25.092019]). Der Grund, ein Gesetz für gesundheitspolitisch verfehlt zu halten, gehört dazu nicht. In
diesem Sinne muss auch die Vorschrift des allgemeinen ärztlichen Berufsrechts ausgelegt werden, die auf den
ersten Blick großzügiger klingt: „Andererseits sind – von Notfällen oder besonderen rechtlichen Verpflichtungen
abgesehen – auch Ärztinnen und Ärzte frei, eine Behandlung abzulehnen“ (§ 7 Abs. 2 Satz 2 Muster-
Berufsordnung [MBO] der Ärztinnen und Ärzte,
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf [letzter
Abruf am 11.10.2019]). Aus Sicht der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die an der vertragsärztlichen Versorgung
(GKV) teilnehmen – das sind die allermeisten –, wäre aber auch ein weiteres Verständnis der MBO
wegen der strengeren Regelung des BMV-Ä irrelevant. Schließlich dürfte die Berufung auf die Gewissensfreiheit
angesichts der hohen Hürden, die insoweit gelten, praktisch keine Bedeutung haben, hierzu allg. Rixen, Die
Gewissensfreiheit der Gesundheitsberufe aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Bormann/Wetzstein (Hrsg.), Gewissen.
Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik, 2014, S. 65 ff.
312
113
reich des Art. 12 Abs. 1 GG umfasst werden (→ Rn. 313), zu handeln, denn bei gesetzwidrigem
Verhalten drohen Konsequenzen nach dem ärztlichen Berufsrecht301 (früher „Standesrecht“
genannt) und ggfs. auch nach dem Berufszulassungsrecht (drohender Verlust der Approbation,
vgl. § 5 Bundesärzteordnung – BÄO). Das unterscheidet die künftige Rechtslage
auch von der bisherigen Rechtslage: Da es sich bei den STIKO-Empfehlungen derzeit nur um
Empfehlungen ohne rechtsverbindlichen Charakter handelt, darf und muss der Arzt bzw. die
Ärztin die Empfehlungen zwar bisher bei der Beratung beachten, aber er ist nicht verpflichtet,
den Empfehlungen zu folgen, wenn er oder sie der fachlich begründeten Ansicht ist, dass im
konkreten Fall eine Befolgung der Empfehlungen nicht angezeigt ist und ein entsprechender
Konsens mit den informierten und aufgeklärten Eltern erzielt wird (informed consent), die
durch ihre Einwilligung dem ärztlichen Rat folgen. Werden die STIKO-Empfehlungen – genauer:
die Regelempfehlungen, die die STIKO ausspricht (→ Rn. 111) – nunmehr Gesetz,
wird die zulässige ärztliche Beratungsfreiheit nur noch auf eine Option reduziert, nämlich die
STIKO-(Regel-)Empfehlungen ohne Wenn und Aber umzusetzen.
Das bedeutet zugleich, dass die Ärztin oder der Arzt verpflichtet ist, das konkrete Behandlungsverhältnis
im Hinblick auf die allgemeinen Beratungs- und die auf konkrete Interventionen
bezogenen Aufklärungspflichten so zu gestalten, dass er oder sie nicht in Widerspruch zu
den Pflichten des § 20 Abs. 8 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSchG-E gerät. Mit anderen
Worten: Die Ärztin bzw. der Arzt muss im Sinne dieser Pflichten beraten und darf andere, aus
ihrer bzw. seiner ärztlich-professionellen Sicht gebotene Alternativen nicht umsetzen und
folglich auch nicht zu deren Vornahme anraten.
Das gilt jedenfalls, sofern der Verweis auf die STIKO-Empfehlungen – was freilich
unklar ist (→ Rn. 111, 131) – so zu verstehen ist, dass die Regelempfehlungen
zur Erst- und Zweitimpfung, wie die STIKO-Empfehlungen sie vorgeben, ohne
Ausnahme umzusetzen sind.
Dass es sich um einen Eingriff in die ärztliche Berufsfreiheit handelt, verdeutlicht
exemplarisch auch der Vorschlag des Bundesrates, das geplante Gesetz möge
klarstellen, dass Kontraindikationen nur ärztlich festgestellt werden dürfen, wenn
301 S. beispielhaft die Vorschriften zur Berufsaufsicht (Art. 36a ff.) und zur Berufsgerichtsbarkeit im Bayerischen
Heilberufe-Kammergesetz (HKaG).
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es sich um die in den STIKO-Empfehlungen genannten Kontraindikationen handele.
302
Diesen Eingriffen fehlt auch nicht – dies ist ein Kriterium, dessen Beachtung das BVerfG
verlangt –303 die sog. objektiv berufsregelnde Tendenz, denn die in Rede stehenden Pflichten
beziehen sich auf das Impfen als eine ärztliche Tätigkeit (→ Rn. 311; bestätigt etwa auch
durch § 20 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 IfSchG-E, → Rn. 12).
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Das Gesetz, das den Eingriff in die Berufsfreiheit bewirkt, muss – ebenso wie bei Art. 2
Abs. 2 Satz 3 GG (→ Rn. 126) – allgemeinen rechtsstaatlichen bzw. demokratischen Anforderungen
genügen; das wurde oben insbesondere mit Blick auf § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E
dargelegt (→ Rn. 126 ff., 133 ff., 140 ff., 150 ff.; zu den akzessorischen Einhaltungspflichten
→ Rn. 122 ff.). Ferner muss das Gesetz verhältnismäßig sein (→ Rn. 154 ff.). Auch wenn das
BVerfG selbst im Zusammenhang mit der Berufsfreiheit, anders als vielfach angenommen,
nicht von der sog. Drei-Stufen-Theorie spricht304 und die damit gemeinten Unterscheidungen305
vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls bei bloßen Berufsausübungsregelungen,
Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter bei subjektiven Zulassungsvoraussetzungen
und bei objektiven Zulassungsvoraussetzungen Abwehr nachweisbarer
oder höchstwahrscheinlich schwerwiegender Gefahren für ein überragend
wichtiges Gemeinschaftsgut
302 BR-Drucks. 358/19 (Beschluss), S. 10, dort heißt es auch: „Ohne diese Klarstellung wäre die Möglichkeit
gegeben, dass Ärzte aufgrund falscher Kontraindikationen (etwa banale subfebrile Infekte oder Hühnereiweißallergie)
ein entsprechendes Zeugnis ausstellen.“
303 Genaugenommen gilt das Kriterium nur für gesetzliche Bestimmungen, die sich „zwar nicht auf die Berufstätigkeit
selbst beziehen, aber die Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern und infolge ihrer Gestaltung
in einem so engen Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen, dass sie objektiv eine berufsregelnde
Tendenz haben.“ So etwa BVerfG, Beschl. v. 13.07.2004 – 1 BvR 1298/94 –, BVerfGE 111, 191, juris,
Rn. 138. Allerdings wird die Rede von der „objektiv berufsregelnden Tendenz“ stillschweigend auch zur Kennzeichnung
der Konstellationen verwandt, in denen sich gesetzliche Bestimmungen auf die Berufstätigkeit beziehen.
304 Rixen, MedR 2018, 667 (668) mit weit. Nachw.
305 BVerfG, Urt. v. 23.03.1960 – 1 BvR 216/51 –, BVerfGE 11, 30, 41 ff. (sog. Kassenarzturteil) im Anschluss
an BVerfG, Urt. v. 11.06.1958 – 1 BvR 596/56 –, BVerfGE 7, 377, 403 ff. (sog. Apothekenurteil).
315
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115
schon lange wieder in eine übliche Verhältnismäßigkeitsprüfung überführt hat,306 können diese
Unterscheidungen bei der Abwägung durchaus noch eine orientierende Funktion haben.
Ausgehend davon, fällt die Verhältnismäßigkeitsprüfung aber nicht anders aus als oben für
die Kinder dargelegt (→ Rn. 171 ff., 195 ff., 223 ff.). Die Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht
gezwungen werden, eine medizinisch unnötige, rein drittnützige Zweitimpfung bei Kindern
vorzunehmen, ohne dass deren Eltern eine Chance haben, dies abzulehnen oder dem zuzustimmen
(→ Rn. 197, 274). Außerdem liegt auch keine – etwa der Lage bei den Pocken (→
Rn. 174) – vergleichbare akute Gefährdungslage vor, die die Inpflichtnahme der Ärztinnen
und Ärzte gerade als „Werkzeuge“ zur Umsetzung der Impfpflicht und damit die Reduzierung
ihrer fachlichen Einschätzungsprärogative bei Beratung und Aufklärung zwingend verlangen
würde. Auch der Verweis auf den Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter oder vernünftige
Erwägungen des Gemeinwohls dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass es sich
um eine Abwägung handelt und das Gewicht der Gründe, die für eine Beschränkung der ärztlichen
Freiheit angeführt werden, nicht allein durch das gewählte Regelungsziel gerechtfertigt
werden kann, es bleibt bei einer Abwägung. Oben (→ Rn. 126 ff.) wurde aber dargelegt, dass
insbesondere die zentralen Bestimmungen der § 20 Abs. 8 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 1
IfSchG-E den maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen und deshalb
verfassungswidrig sind. Es ist jedoch von vornherein unzumutbar, in den Vollzug verfassungswidriger
Normen eingebunden zu werden, wie dies hier zulasten der Ärztinnen und Ärzte
geschieht.
Demnach sind die gesetzlichen Bestimmungen, soweit sie Ärztinnen und Ärzte in die Pflicht
nehmen, ebenfalls verfassungswidrig. Das gilt etwa auch mit Blick auf die obigen Ausführungen
zur fehlenden Folgerichtigkeit (→ Rn. 224 ff.); das BVerfG hat sie mit Blick auf Art. 12
Abs. 1 GG entwickelt. Es ging hierbei um Gaststättenbetreiber, die von einem gesetzlich angeordneten,
aber durch Ausnahmen inkohärent gewordenen Rauchverbot betroffen waren
(→ Rn. 224 ff.).307 Diese Argumentation gilt, wie dargelegt, erst recht für die weitreichende
Anordnung von Impfpflichten, deren Schutzkonzept nicht folgerichtig umgesetzt wurde (→
Rn. 224 ff.). Das macht diese Pflichten auch für Ärztinnen und Ärzte zu einer unzumutbaren
Belastung, weil sie gezwungen wären, die Vornahme einer Impfpflicht und deren Nachweis
306 Aufbereitung der Rechtsprechungsentwicklung bei Ennuschat, in: Tettinger/Wank, Gewerbeordnung (GewO),
Kommentar, 8. Aufl. 2011, Einleitung, Rn. 73 ff., 82 ff., 87 ff.
307 BVerfG, Urt. v. 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. –, BVerfGE 121, 317.
317
116
zu ermöglichen, die im (geplanten) Gesetz nicht konsequent, eben nicht folgerichtig umgesetzt
ist.
Die unverhältnismäßige Belastung resultiert aber auch daraus, dass insbesondere § 20 Abs. 8
Satz 1 IfSchG-E weder den rechtsstaatlichen Geboten der Normenbestimmtheit (Normenklarheit)
und Widerspruchsfreiheit (im Hinblick auf die SIKO-Empfehlungen, → Rn. 133 ff.)
genügt noch den Vorgaben, die das Grundgesetz im Hinblick auf die hinreichend demokratische
Legitimation des Verweisung und die sog. Wesentlichkeit von Grundrechtseingriffen
(insb. zur Ausweitungs- und Entgrenzungstendenz mit Blick auf die Kombinationsimpfstoffe
→ Rn. 119 ff., 221 f.) macht (→ Rn. 126 ff., 133 ff., 140 ff., 150 ff.).
Als Folge der Verfassungswidrigkeit der Regelungen (§ 20 Abs. 8 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 Nr. 1
IfSchG-E) entfällt auch die Pflicht, das Behandlungsverhältnis entsprechend den Vorgaben
des IfSchG-E zu gestalten. Auch diese Folgeeffekt des § 20 Abs. 8 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 Nr. 1
IfSchG-E ist verfassungswidrig.
Demnach verletzt § 20 Abs. 8 Satz, Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 GG die Berufsfreiheit von Ärztinnen
und Ärzten.
II. Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)
1. Maßstab
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich
Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.
„Eine Norm verletzt danach den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
GG, wenn durch sie eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen
Normadressaten verschieden behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen
keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die
ungleiche Behandlung rechtfertigen können ([…] stRspr).“ (dazu schon →
Rn. 296).
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2. Ungleichbehandlung
Während für alle in Deutschland tätige Ärztinnen und Ärzte die STIKO-Empfehlungen gelten
(§ 20 Abs. 8 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 Nr 1 IfSchG-E), gelten – jedenfalls im Hinblick auf § 20
Abs. 3 IfSchG und § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSchG – für die in Sachsen tätigen Ärztinnen und
Ärzte auch die Empfehlungen der SIKO (→ Rn. 133 ff.).
Wie oben dargelegt (→ Rn. 133 ff.), bedeutet das: In Sachsen tätige Ärztinnen und Ärzte
– etwa auch im Rahmen einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft, die
sich auf verschiedene Ärztekammerbezirke bzw. Bezirke von Kassenärztlichen
Vereinigungen beziehen kann –308
sind Unklarheiten darüber ausgesetzt, an welche Empfehlungen sie gebunden sind. Folgen sie
den SIKO-Empfehlungen, dann sichert sie das im Falle eines Impfschadens ab, weil nur die
auf Anraten der SIKO zustande gekommene Öffentliche Empfehlung der obersten Landesgesundheitsbehörde
(Landesgesundheitsministerium) insoweit maßgeblich ist (§ 60 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 IfSchG), nicht aber die STIKO-Empfehlung (→ Rn. 138). Andererseits müssen
Ärztinnen und Ärzte das (geplante) Gesetz befolgen, das ihnen – wenn auch im Umfang unklar
(→ Rn. 126 ff., 138) – aufgibt, die Regelempfehlungen der STIKO umzusetzen. Zwar
sind weder die STIKO- noch die SIKO-Empfehlungen Rechtsnormen (→ Rn. 105, 136), aber
der Rechtsnormwiderspruch läge (sollte der Gesetzentwurf Gesetz werden) darin, das einerseits
gemäß § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSchG-E, andererseits gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m.
§ 20 Abs. 3 IfSchG für denselben Sachverhalt unterschiedliche Anforderungen definiert werden,
denn es werden inhaltlich abweichende Empfehlungen in Bezug genommen (→
Rn. 137).
Die Widersprüchlichkeit wird noch dadurch verschärft, dass § 12 der für alle an
der vertragsärztlichen („kassenärztlichen“) Versorgung geltenden Schutzimpfungs-
Richtlinie (SI-RL) des Gemeinsamen Bundeausschusses lautet: „Der Gemeinsame
Bundesausschuss kann von den Empfehlungen der STIKO mit beson-
308 Vgl. § 33 Abs. 2 und Abs. 3 Ärzte-ZV (Zulassungsverordnung für Vertragsärzte sowie § 18 Abs. 3 Musterberufsordnung
der Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä), Abruf unter
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf [letzter
Abruf am 11.10.2019].
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derer Begründung abweichen. Abweichungen von den Empfehlungen der STIKO
werden in Anlage 1 zu dieser Richtlinie aufgeführt.“ Zuck meint hierzu treffend:
„Die Tatsache, dass der G-BA von den STIKO-Empfehlungen (wenn auch mit
Begründung) abweichen darf, zeigt, dass sie keinen zwingenden normativen Charakter
haben können.“309 Auch das Bundessozialgericht (BSG) betont die Unabhängigkeit
des G-BA von den Empfehlungen der STIKO.310 (Zur fehlenden
Rechtsnormqualität → Rn. 105)
3. Rechtfertigung
Die Ungleichbehandlung lässt sich nicht rechtfertigen. Es ist nicht ersichtlich, welchen Sachgrund
es gibt, im einen Teil des Infektionsschutzgesetzes (IfSchG) die SIKO-Empfehlungen
anzuerkennen, im anderen aber nicht, obgleich es durchweg um denselben Vorgang – die
Impfung – geht. Entweder ist es geboten und angemessen (= zumutbar), das Ziel des (geplanten)
Gesetzes, impflückenschließenden Gemeinschaftsschutz durch Adressierung bestimmter
Gruppen von Menschen an bestimmten Orten herzustellen (→ Rn. 157 ff. i.V.m. Rn. 190 f.),
gerade vermittels der STIKO-Empfehlungen zu erreichen, dann dürften die nicht deckungsgleichen
SIKO-Empfehlungen (was besonders deutlich bezüglich der Zweitimpfung wird, →
Rn. 135, 137) vom Gesetzgeber nicht akzeptiert werden. Wo der Gesetzgeber sie aber für den
selben Vorgang – die Impfung – akzeptiert, stellt er stillschweigend in Frage, dass die
STIKO-Empfehlungen den zwingenden Charakter für die Erreichung des Gesetzesziels (→
Rn. 164, 170 i.V.m. Rn. 190 f.) haben, der ihre alleinige Beachtlichkeit verlangt.
Selbst wenn der (künftige) Gesetzgeber sich entscheiden sollte, neben den STIKOEmpfehlungen
auch auf die SIKO-Empfehlungen zu verweisen, wäre das Problem nicht gelöst:
Formal wäre zwar im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSchG Klarheit geschaffen.
Es bliebe aber das Problem, dass außerhalb Sachsens nur die STIKO-Empfehlungen, in Sachsen
aber die SIKO-Empfehlungen zu beachten wären – was die Frage nach der sachlichen
Tragfähigkeit insbesondere der Altersvorgaben aufwirft, die die STIKO-Empfehlungen machen
(→ Rn. 113, 135).
309 Zur SI-RL Zuck, MedR 2017, 85 (87).
310 BSG, Urt. v. 21.03.2018 – B 6 KA 31/17 R –, SGb 2019, 54, juris, Rn. 31.
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Dass die Altersvorgaben für die Vornahme von Impfungen, insbesondere bei der Zweitimpfung,
variieren, ist, wie erwähnt (→ Rn. 275), auch international zu beobachten, wo es eine
erhebliche Spannbreite bei den Altersvorgaben gibt, die über die Abweichungen der SIKOvon
den STIKO-Empfehlungen deutlich hinausgeht. Es bliebe die letztlich nicht schlüssig
seitens des Gesetzgebers zu beantwortende Frage, warum Altersvorgaben, die in Sachsen beachtlich
sind, außerhalb Sachsens nicht beachtlich sein sollen, obgleich beides ersichtlich medizinisch
vertretbar ist. Dass es medizinisch-epidemiologische Besonderheiten Sachsens gibt,
die die Beachtlichkeit der SIKO-Empfehlungen nur in Sachsen rechtfertigen würden, wird zu
Recht von niemandem vertreten und ist auch nicht ersichtlich.
Vor diesem Hintergrund verletzt das (geplante) gesetzlich angeordnete Nebeneinander von
STIKO- und SIKO-Empfehlungen auch den Gleichbehandlungsanspruch der Ärztinnen und
Ärzte (Art. 3 Abs. 1 GG).
III. Ergebnis
Die Vorschriften des (geplanten) Masernschutzgesetzes über die Impfpflicht verletzen die
Grundrechte der Ärztinnen und Ärzte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. 327 328
Das Gesetzt betrifft mehr die Region in der Vorsorge als die Stadt Hannover, aber auch die Stadt Hannover ist in den Prozess durch zahlreiche Mitarbeiter und Kindergärten involviert.
Daher sollten diese Urteile abgewartet werden: Zum einen um Rechtssicherheit zu bekommen und zum anderen damit sich die Landeshauptstadt Hannover nicht der Beihilfe zur Körperverletzung schuldig macht. Die Gesellschaft für Umwelt- und Humantoxologie spricht sich ebenfalls gegen eine allgemeine Impfplicht aus. https://www.dguht.de/stellungnahme-zur-einfuehrung-der-impfpflicht/
Dort ist nachzulesen: Die Hälfte aller Impfstoffe enthält giftige Stoffe wie Uran, Arsen oder Nickel. Alle Impfstoffe enthalten Aluminium als Trägerstoff. Der Aluminiumgehalt in den sogenannten „Totimpfstoffen“ liegt um das Tausend- bis Sechstausendfache über dem Grenzwert für Trinkwasser. Hier sollten Impfstoffe ohne gifte Inhaltsstoffe zum Schutz der Bevölkerung entwickelt werden.
Masernviren für Schutzimpfungen werden in Kulturen embryonaler Hühnerzellen gezeugt, sind damit eigentlich tabu für Veganer, Vegetarier oder Allergiker.
Um für die Bürger in Hannover den größtmöglichen Schutz, aber auch die größtmögliche Freiheit für die individuelle Entscheidung zu gewährleisten, bitte ich um Ihre Zustimmung die Impfplicht zunächst auszusetzen.
Mit besten Grüßen
Tobias Braune