Informationsdrucksache Nr. 1990/2008:
Jugendgerichtshilfe und Täter-Opfer-Ausgleich

Inhalt der Drucksache:

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1990/2008
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Jugendgerichtshilfe und Täter-Opfer-Ausgleich

Rechtliche Grundlagen für die Arbeit der Jugendgerichtshilfe

Das Jugendamt hat nach Maßgabe der §§ 38 und 50 (3) Satz 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) im Gerichtsverfahren mitzuwirken. Die Arbeit der Jugendgerichtshilfe (JGH) fußt auf den rechtlichen Bestimmungen des SGB VIII und des Jugendgerichtsgesetzes. Hauptsächlicher Inhalt der Arbeit der JGH ist das Einbringen von sozialpädagogischen Aspekten in das Strafverfahren (§ 52 SGB VIII - Mitwirkung im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz). An erster Stelle stehen hierbei insbesondere die Möglichkeiten, durch Hilfen zur Erziehung zur frühzeitigen Verfahrensbeendigung beizutragen (§§ 45 und 47 JGG). Nach § 38 Abs. 2 JGG wirkt das Jugendamt im jugendgerichtlichen Verfahren mit, indem es im Strafverfahren „die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen“ Gesichtspunkte zur Geltung bringt.

Die JGH ist im Rahmen von Jugendgerichtsverfahren gegen Mitglieder der Altersgruppe der 14- bis 21-jährigen Jugendlichen und Heranwachsenden während der Dauer des gesamten Verfahrens als eigenständige, der Justiz gegenüber weisungsungebundene Institution beteiligt. Weitere Aufgaben sind die Überwachung von Weisungen und Auflagen gem. § 10 JGG. Weisungen sind Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Dabei dürfen an die Lebensführung des Jugendlichen keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. Bei Heranwachsenden erfolgt die Prüfung der Anwendung des Jugendstrafrechts nach § 105 JGG. Der Richter wendet bei Heranwachsenden die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften an, wenn

- die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder

- es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.



Aufgabenfelder der Arbeit mit Jugendlichen und Heranwachsenden im Strafverfahren

Aufgabe der JGH ist es, über den lebensweltorientierten Bezug Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zu suchen sowie Beratung und Hilfen anzubieten, um den jungen Menschen zukünftig ein Legalverhalten zu ermöglichen. Die Jugendgerichtshilfe bietet eine breite Palette von Maßnahmen und Auflagen, die selbst durchgeführt werden. Hierzu gehören die Vermittlung und Überwachung gemeinnütziger Arbeit (Hilfsdienst und Hilfsdienstüberwachung), umfangreiche Betreuungsweisungen mit bis zu 6 Monaten Dauer und JGH-Gespräche.


In eigener Zuständigkeit nimmt die JGH folgende Aufgaben wahr:

Vorbereitung der Hauptverhandlung


Mit den Betroffenen und deren Eltern findet ein Erstgespräch statt mit dem Ziel der Beratung und der Erstellung einer Sozialanamnese. Weitere Maßnahmen wie Hausbesuche oder Kontaktaufnahme zu Schulen oder zu Ansprechpartnern im Stadtteil erfolgen nach Bedarf. Es wird geprüft, ob ein Jugendhilfebedarf besteht und ggf. mit dem KSD-Bezirk und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe zusammengearbeitet. Bei Untersuchungshäftlingen wird geprüft, ob die U-Haft durch pädagogische Maßnahmen vermieden werden kann.

Stellungnahme in der Hauptverhandlung


An der Gerichtsverhandlung nimmt die JGH regelmäßig teil, auch wenn vorher kein Kontakt zu den Betroffenen hergestellt werden konnte. In der mündlichen Stellungnahme wird die aktuelle Situation und die Entwicklung des Betroffenen aufgezeigt und eine entsprechende Maßnahme vorgeschlagen. Eine Stellungnahme zur strafrechtlichen Reife und zur Anwendung des Jugendrechts wird gegeben.

Vorrangige Jugendverfahren
Die Polizeidirektion Hannover, der Fachbereich Jugend und Familie, die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht Hannover haben in einer gemeinsamen Erklärung im April 2004 die Einführung des vorrangigen Jugendverfahrens festgelegt.
Das Verfahren sieht vor, auf Jugendliche und heranwachsende Tatverdächtige, bei denen aufgrund ihrer persönlichen Entwicklung und der Art, schwere und/oder Anzahl der ihnen zur Last gelegten Taten Hilfen nach dem SGB VIII möglich und geboten sind, umgehend zu reagieren.
Solche Strafverdächtigen können z. B. sein,

- die bereits eine Reihe voneinander unabhängiger nicht erheblicher Straftaten begangen haben,

- die schwerwiegende und auffällige Gewalttaten begangen haben, insbesondere, wenn deren Opfer oder die Allgemeinheit vor der Gefahr von Wiederholungen geschützt werden müssen,

- bei denen die Gefahr besteht, dass sie durch ein kriminelles Umfeld (z. B. Banden, Cliquen) in weitere nicht unerhebliche Straffälligkeiten abgleiten.

Innerhalb von 4 Wochen wird bei diesen Tatverdächtigen eine Hauptverhandlung durchgeführt. Es ist zu prüfen, ob Hilfen nach dem SGB VIII geboten sind. In der Hauptverhandlung wird die JGH eine konkrete ausgestaltete Hilfe für den Jugendlichen/Heranwachsenden vorlegen müssen, um eine evtl. Inhaftierung zu verhindern.


Einleitung und Überwachung richterlicher Maßnahmen
Sanktionen wie die Durchführung von pädagogischen JGH-Gesprächen und Betreuungsweisungen werden von der JGH selbst durchgeführt, andere Maßnahmen (Hilfsdienste, Geldbußen, Geschenkauflagen, Schadenswiedergutmachungen, Wochenendseminare, Werkstattkurse, soziale Trainingskurse) werden an freie Träger weitervermittelt und überwacht. Inhaftierte werden während der Strafhaft weiter betreut und ggf. bei der Haftentlassung unterstützt.

Bearbeitung von Diversionen


Diversionen sind Verfahren ohne Hauptverhandlung nach Entscheidung und Vorgabe der Staatsanwaltschaft mit dem Ziel der Entkriminalisierung. Die JGH führt ein erzieherisches Gespräch und vermittelt und überwacht die weiteren Verfügungen der Staatsanwaltschaft.

Projekte der JGH

Anti-Gewalt-Training


Seit 2001 führt die JGH in Kooperation mit dem VEJ e.V. ein halbjähriges Anti-Gewalt-Training für männliche Jugendliche und Heranwachsende durch, die mehrfach wegen Körperverletzungen oder anderer Gewalttaten auffällig geworden sind. Ziel dieses Trainings ist, die Einstellungen der jungen Menschen im Umgang mit Gewalt zu verändern, gewaltauslösende Verhaltensweisen aufzuzeigen und alternative Verhaltensweisen einzuüben.

Ladendiebstahl-Projekt in Kooperation mit der Polizei


Dieses Projekt richtet sich an Jugendliche, die im Bereich des Laden- oder Kaufhausdiebstahls aufgefallen sind. Nach einem erzieherischen Gespräch findet in der JGH ein pädagogisches Gruppentreffen statt, um die Thematik Diebstahl näher zu beleuchten. Im weiteren Schritt werden in Zusammenarbeit mit einem Kaufhaus die betriebswirtschaftlichen Aspekte der Problematik mit den Jugendlichen erörtert. Dieses Projekt ist ein gelungenes Beispiel für eine sekundäre Prävention, denn von 135 Teilnehmer/innen am Projekt sind 85 bislang strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten.

Betreuung während des Hilfsdienstes


In Kooperation mit dem Verein „aktiv e.V.“ bietet die JGH eine Betreuung und Begleitung von jungen Menschen an, die die Auflage haben, gemeinnützige Arbeit abzuleisten. Das Angebot richtet sich an Jugendliche und Heranwachsende, die aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, ihren richterlichen Weisungen nachzukommen. Mithilfe ehrenamtlicher Unterstützung werden die Betroffenen in adäquate Einrichtungen vermittelt und während der Hilfsdienstzeit begleitet.

Untersuchungshaftvermeidung/Haftentscheidungshilfe


Ebenso wie Untersuchungshaft, die bei jungen Menschen in besonderem Maße das letzte Mittel der Verfahrenssicherung darstellt, muss Ziel der U-Haftvermeidung die Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung sein. Die Haftentscheidungshilfe soll Alternativen zu einer Untersuchungshaft ermöglichen mit dem Ziel, pädagogische Einflussnahme zu gewährleisten. Mit der Durchführung der U-Haftvermeidung sind besondere Einrichtungen außerhalb Hannovers betraut. In allen Einrichtungen ist ein Schulbesuch oder die Teilnahme an berufspraktischen Maßnahmen – entweder intern oder extern – möglich. Leerläufe im Alltag werden durch gemeinnützige Arbeiten oder durch Übernahme von Hausarbeiten vermieden.

Aktuelle Situation

Die Tätigkeit der Jugendgerichtshilfe wird in der Landeshauptstadt Hannover mit 15 Vollzeitstellen wahrgenommen und erfolgt spezialisiert und stadtteilbezogen. Die Arbeit der Jugendgerichtshilfe ist durch steigende Fallzahlen sowie eine Verdichtung von Problemlagen in den Einzelfällen gekennzeichnet:


Pädagogisch betrachtet verbergen sich oft materielle und soziale Armut hinter einzelnen Delikten (z. B. Beförderungserschleichung oder Diebstahldelikte). Hier treten in den Familien strukturelle Defizite in der Erziehung deutlich zutage. Es wird immer häufiger notwendig, erzieherische Hilfen auch außerhalb des Elternhauses einzuleiten. Jungen Täterinnen und Tätern fehlen einfachste Normen und Regeln des Zusammenlebens, vielfach einhergehend mit Reifeverzögerungen, Brüchen in den Biographien sowie fehlender Perspektiven auf Grund mangelnder Schulbildung. Diese Lebensbedingungen bewirken aus wissenschaftlicher Sicht ein erhöhtes Risiko, gewalttätig zu werden. In Hannover sind die Gewaltdelikte, Körperverletzung, Raub und Sexualdelikte von 2006 (1197 Delikte) auf 2007 (1379 Delikte) um ca. 15% gestiegen.
Weiterhin auffällig ist eine Häufung von Delikten, die unter Alkoholeinfluss begangen werden, Delinquenz bei Mädchen, hier insbesondere Gewaltdelikte (mit einer Häufung von alkoholisierten Täterinnen) sowie eine steigende Zahl von delinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund.
Trotz steigender Verurteilungen im Bereich der freiheitsentziehenden Maßnahmen wird dem erzieherischen Charakter des Jugendstrafrechts Rechnung getragen und diese Delikte zunächst mit sozialen Trainingskursen, Konfrontativtraining, Anti-Gewalt-Training etc. sanktioniert.
Führen diese Maßnahmen nicht zu einer Verhaltensänderung, bleibt der Justiz als letztes Mittel der Wahl die Verurteilung zu Jugendstrafen ohne Bewährung. Dies gilt für die Intensiv- und Mehrfachtäter, die trotz vorhergehender pädagogischer Intervention weiterhin Straftaten begehen. Eine detaillierte Aufstellung der abgeschlossenen Verfahren, der Delikte und Sanktionen ist der Anlage zu entnehmen.


Der Täter-Opfer-Ausgleich

Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) bei Jugendlichen und Heranwachsenden bezeichnet das Angebot an Täter und Opfer, möglichst bald nach der Straftat an einem neutralen Ort über die Tat, deren Ursachen und Wirkung sowie die Möglichkeit der Wiedergutmachung zu sprechen und zu verhandeln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des TOA haben eine Zusatzausbildung als Mediatoren absolviert. Um den Ausgleich zu erleichtern, begleiten sie die Gespräche.


Während im herkömmlichen Strafverfahren eine konstruktive Tatverarbeitung selten möglich ist, werden beim TOA die Opfer aktiv mit einbezogen, sodass sowohl der Rechtsfrieden als auch der soziale Frieden wiederhergestellt werden kann. Jugendliche Täter und Opfer haben in diesen Verfahren die Möglichkeit, alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten für sich kennenzulernen. Dabei besteht für sie die Chance, bei zukünftigen Streitigkeiten gewaltfrei zu handeln. Sie wirken somit als Multiplikatoren in ihrem sozialen Umfeld.
In der Landeshauptstadt Hannover wird der TOA im Jugendbereich seit 1992 - derzeit mit 2 Planstellen - durchgeführt. Seitdem sind die Fallzahlen kontinuierlich gestiegen. Dabei hat sich herausgestellt, dass besonders Körperverletzungen und gefährliche Körperverletzungen, aber auch Raub und Bedrohung ca. 80 % aller Fälle ausmachen.

Bedeutung für die Beteiligten


Im Gegensatz zum üblichen Strafverfahren bietet der Täter-Opfer-Ausgleich für Geschädigte die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Ärger loszuwerden sowie Interessen an Wiedergutmachung zum Ausdruck zu bringen. Täter erhalten die Gelegenheit, sich mit den Folgen der Tat auseinanderzusetzen und soweit wie möglich zu ihrer Klärung und Wiedergutmachung beizutragen. Insbesondere ist es für Opfer notwendig, das Erlebte aufzuarbeiten, um nicht in der Opferrolle zu verbleiben bzw. selbst zukünftig zum Täter zu werden.

Qualität des Angebotes TOA


Das TOA-Service-Büro in Köln und eine Kommission der Bundesarbeitsgemeinschaft für TOA verleihen seit einiger Zeit ein Gütesiegel an TOA-Einrichtungen, die den bundesweiten TOA-Standards entsprechen. Die Zertifizierung mit dem Gütesiegel bietet für die TOA-Kooperationspartner die Garantie für eine solide Mediation in Strafsachen. Im April 2007 wurde dem TOA der Landeshauptstadt Hannover als erster kommunaler Einrichtung in der Bundesrepublik das Gütesiegel als Zeichen für „hervorragende Arbeit“ und „bundesweit geprüfte Qualität“ verliehen.

Fallzahlen 2007


Im Jahr 2007 sind insgesamt 277 Fälle beim TOA eingegangen. In 151 Fällen hat ein gemeinsames Gespräch zum erfolgreichen Abschluss geführt. Darüber hinaus wurden in 41 Fällen Vereinbarungen über Schmerzensgeld und/oder Schadenswiedergutmachung zwischen Tätern und Opfern getroffen. In 26 Fällen haben Beschuldigte Ersatzleistungen in Form von gemeinnütziger Arbeit erbracht. In 59 Fällen ist der TOA gescheitert.


Schlussbemerkung

Jugendhilfe im Strafverfahren (JGH/TOA) ist elementarer Bestandteil der Jugendhilfe. Sie ist gesellschaftliche Reaktion unter anderem auf Mängellagen junger Menschen. Manifestierte Jugenddelinquenz wird zum Anlass genommen, die der jeweiligen Situation der Straftäter passende Hilfe- bzw. Unterstützungsleistungen zu organisieren. Jugendgerichtshilfe ist keine statisch angelegte Tätigkeit, sondern einem stetigen Veränderungsprozess unterworfen, dem durch konzeptionelle Fortschreibung ständig Rechnung getragen wird. In gleicher Weise wird sich der Täter-Opfer-Ausgleich kontinuierlich weiterentwickeln und auf aktuelle gesellschaftliche Tendenzen und Problemlagen mit geeigneten Methoden eingehen. Gerade den Möglichkeiten der außergerichtlichen Einigung kommt eine große Bedeutung zu, weil hier (junge) Menschen gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien kennen- und anwenden lernen. Somit leistet Jugendhilfe im Strafverfahren wertvolle Präventionsarbeit zur Vermeidung erneuter Straffälligkeit.

Berücksichtigung von Gender-Aspekten

Die Maßnahmen der Jugendgerichtshilfe und des Täter-Opfer-Ausgleichs richten sich grundsätzlich an Jungen und Mädchen. Es werden in der Beratung dem Geschlecht angemessene Formen der Unterstützung, des Lernens und der Konfliktlösung angeboten.

Kostentabelle

Es entstehen keine finanziellen Auswirkungen.

51.2 
Hannover / 29.08.2008