Drucksache Nr. 0404/2020 F1:
Antwort der Verwaltung auf die
Anfrage der SPD-Fraktion zu Antisemitismus
in der Ratssitzung am 26.03.2020, TOP 5.3.

Inhalt der Drucksache:

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Landeshauptstadt HannoverDrucksachen-Zeichen
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0404/2020 F1
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Antwort der Verwaltung auf die
Anfrage der SPD-Fraktion zu Antisemitismus
in der Ratssitzung am 26.03.2020, TOP 5.3.

Mit der Offensive gegen Antisemitismus verliehen Politik, Verwaltung und Stadtgesellschaft dem Wunsch Ausdruck, dass jüdisches Leben in Deutschland selbstverständlich erfahrbar sein müsse und dass wir alle dazu aufgerufen sind, kontinuierlich und präventiv gegen Antisemitismus zu handeln. Auch aus diesem Grund haben die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP Mittel für eine Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Höhe von 70.000 Euro in den Haushalt 2019/2020 gestellt, diese Meldesteile wird ihre Arbeit in Kürze aufnehmen.
Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass von Einzelfällen und Randerscheinungen antisemitischer Vorfälle nicht mehr gesprochen werden kann. So hegt laut einer Umfrage vom Oktober 2019 ein Viertel der Deutschen antisemitische Gedanken (vgl. Süddeutsche Zeitung 24.10.2019), die „Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2019 kommt auf einen Anteil von bis zu 24 Prozent. 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist Antisemitismus in unserem Land fühlbarer und gravierender geworden. Davon sind auch Gedenkstätten betroffen (vgl. Interview mit Jens-Christian Wagner, HAZ 03.01.2020). Und das zeigt ebenfalls das Beispiel des Pianisten und Botschafters der Bewerbung Hannovers zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025, Igor Levit, der wiederholt mit Mord bedroht und antisemitisch beleidigt wurde.
Wir verachten diese Angriffe und werden Antisemitismus niemals tolerieren!

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Verwaltung:

1. Wie viele Angriffe auf jüdisches Leben und Gedenkstätten in Hannover wurden seit 2010 durch die Polizei gezählt?

2. Gibt es Beobachtungen dazu, dass in Gedenkstätten in Hannover zunehmend antisemitische Äußerungen getätigt oder Erkenntnisse der Holocaustforschung in Frage gestellt werden?


3. Welche Projekte und Maßnahmen plant die Stadt Hannover für das Jahr 2020, um über Antisemitismus und seine menschenfeindlichen Begleiterscheinungen zu informieren?

Lars Kelich
Fraktionsvorsitzender

Text der Antwort

Frage 1: Wie viele Angriffe auf jüdisches Leben und Gedenkstätten in Hannover wurden seit 2010 durch die Polizei gezählt?

Auf Anfrage der LHH hat die Polizei eine interne Auswertung durchgeführt, bei der insgesamt 144 Delikte erfasst werden konnten, die im Zeitraum vom 1.1.2011 bis zum 18.2.2020 mit dem Tatort in der Landeshauptstadt Hannover als politisch motivierte, antisemitische Kriminalität eingeordnet und in der Kriminalfachinspektion 4 des Zentralen Kriminaldienstes Hannover bearbeitet wurden. Es wurden Straftaten sämtlicher Deliktsbereiche berücksichtigt.

Anzumerken ist, dass die Begriffe „Angriffe auf jüdisches Leben“ und „Angriffe auf jüdische Gedenkstätten“ polizeilich nicht klar voneinander abzugrenzen sind. Gedenkstätten werden polizeilich nicht gesondert erfasst, sodass alle jüdischen Einrichtungen (Synagogen, Gemeinden, Bildungs- und Seniorenzentren, Friedhöfe, Mahnmale) betrachtet wurden.

Auch ist anzumerken, dass es sich bei den nachfolgend aufgeführten Zahlen um Eingangsfallzahlen (Eingangsstatistik) handelt. Die Eingangsstatistik ist eine statistische Erfassung, die unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden bei der Polizei und damit zu Beginn der Ermittlung der Tat erfolgt. Somit sind im Zuge der polizeilichen Ermittlungen bzw. unter Umständen sogar, wenn sich erst bei Staatsanwaltschaft oder Gericht neue Erkenntnisse zeigen, noch nachträgliche Änderungen in der Eingangsstatistik möglich. Als operatives Werkzeug ermöglicht die Eingangsstatistik zwar ein aktuelles Lagebild, stellt jedoch in einigen Fällen nur eine Momentaufnahme dar und eignet sich somit in einigen Fällen weniger zur Darstellung einer objektiven Kriminalitätslage.

Die Taten gliedern sich nach Jahren wie folgt:



2011: 18 Taten
2012: 13 Taten
2013: 10 Taten
2014: 17 Taten
2015: 23 Taten
2016: 17 Taten
2017: 14 Taten
2018: 12 Taten
2019: 18 Taten
2020: 2 Taten

Frage 2: Gibt es Beobachtungen dazu, dass in Gedenkstätten in Hannover zunehmend antisemitische Äußerungen getätigt oder Erkenntnisse der Holocaustforschung in Frage gestellt werden?

Es gibt in Hannover keine Beobachtungen zu antisemitischen Äußerungen von Teilnehmenden bei Veranstaltungen, wohl aber werden gelegentlich die Erkenntnisse der Holocaustforschung in Frage gestellt.

Was außerdem beobachtet werden kann, ist eine Zunahme von Hakenkreuzschmierereien am Holocaustmahnmal, auf Stolpersteinen, am Mahnmal für das KZ Ahlem und an der Informationstafel für das KZ Stöcken. Eine systematische Sammlung dieser Attacken ist in Planung. Als Tendenz kann wie gesagt ein Anstieg festgestellt werden. Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass sich Anwohner*innen und Nachbar*innen verstärkt um die Beobachtung der erwähnten und anderer Mahnmalorten kümmern.

In naher Zukunft wird das ZeitZentrum Zivilcourage eröffnet, das konzeptionell keine Gedenkstätte, sondern ein außerschulischer Lernort ist.

Neben der 2020 geplanten Sammlung antisemitischer Äußerungen im Umkreis der städtischen Gedenkorte und anlässlich von Gedenkveranstaltungen wird auch im ZeitZentrum die besondere Aufmerksamkeit auf antisemitischen Äußerungen (in welcher Form auch immer) liegen. Alle Fälle sollen von den Mitarbeitenden protokolliert und an die offizielle Dokumentationsstelle gemeldet werden. Die Protokolle der Fälle werden ein wichtiges Instrument für die pädagogische Selbstkontrolle der Mitarbeitenden im ZeitZentrum sein. Das ZeitZentrum versteht sich hier besonders als wachsendes und lernendes System.

Natürlich wird die Hausordnung antisemitische und überhaupt rassistische Demonstrationen im ZeitZentrum untersagen. - Nicht auszuschließen ist, dass das ZeitZentrum als Ganzes auch ein Aggressionsobjekt von Antisemiten wird.

Frage 3: Welche Projekte und Maßnahmen plant die Stadt Hannover für das Jahr 2020, um über Antisemitismus und seine menschenfeindlichen Begleiterscheinungen zu informieren?

Die aufgrund der Drucksache 2787/2017 im Jahr 2018 begonnene Offensive gegen Antisemitismus wird auch im Jahr 2020 von der Stelle für Demokratiestärkung und gegen Rechtsextremismus fortgeführt. Nach wie vor plant der Expert*innenkreis der Offensive gegen Antisemitismus alle Maßnahmen und berät die Verwaltung in Hinblick auf den Umgang mit Antisemitismus in Hannover.

Mit Hilfe der von der Ratsversammlung bereitgestellten Mittel nimmt 2020 die Dokumentations- und Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle in Hannover in Trägerschaft der Hochschule Hannover ihre Arbeit auf. Diese Stelle wird momentan eingerichtet und der Öffentlichkeit in einigen Wochen ihre Arbeitsaufnahme und ihre Kontaktdaten bekannt geben. Ab diesem Zeitpunkt können dort antisemitische Vorfälle gemeldet werden. Entsprechende Meldungen werden durch die Stelle dokumentiert, bei Bedarf leistet die Dokumentations- und Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle auch eine Verweisberatung zu weiteren Beratungseinrichtungen in Hannover.

Darüber hinaus führt die Stelle für Demokratiestärkung und gegen Rechtsextremismus in Kooperation mit der Hochschule Hannover eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Antisemitismus und Rassismus heute“ durch. Dazu referieren unter anderem Prof. Dr. Julia Bernstein, Prof. Dr. Andreas Zick und Dr. Floris Biskamp. Ziel der Veranstaltungen ist es, allen Interessierten ein Problembewusstsein in Bezug auf heutigen Antisemitismus zu vermitteln.