Informationsdrucksache Nr. 0853/2014:
Niedrigschwellige Betreuungsangebote für Demenzerkrankte mit Migrationshintergrund in Hannover
– Abschlussbericht zum Modellprojekt

Inhalt der Drucksache:

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Niedrigschwellige Betreuungsangebote für Demenzerkrankte mit Migrationshintergrund in Hannover
– Abschlussbericht zum Modellprojekt

Rund ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner der Landeshauptstadt Hannover haben einen Migrationshintergrund. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunftskulturen prägt das Stadtleben Hannovers.
Die Zahl der älteren Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wird in den nächsten Jahren weiter steigen, damit einhergehend auch die Gruppe der an Demenz erkrankten Migrantinnen und Migranten.

1. Struktur und Ziele des Modellprojekts
Im Fachbereich Senioren, Betrieb Städtische Alten- und Pflegezentren, wurde im Zeitraum 15.11.2010 - 30.09.2013 ein Modellprojekt für Demenzerkrankte mit Migrationshintergrund in Hannover durchgeführt.

Mit Drucksache Nr. 1110/2012 wurde ein Zwischenbericht zum Modellprojekt vorgelegt.
Das Projekt wurde durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen, Familie und Integration sowie die gesetzlichen Pflegekassen gefördert.



Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes erfolgte durch die Hochschule Hannover, Fakultät V, Abteilung Pflege und Gesundheit. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung wurde die aktuelle Versorgungssituation für MigrantInnen mit Demenz erkundet. Es wurden Experteninterviews mit beteiligten Akteuren sowie Interviews mit pflegenden Angehörigen durchgeführt. Die Auswertung der Interviews ist in das Projektergebnis eingeflossen. Im Rahmen einer Abschlussevaluation konnten Handlungsempfehlungen für ein mögliches flächendeckendes Angebot entwickelt und eine Abschlusstagung mit vorbereitet und moderiert werden.
Die abschließende Projektdokumentation wurde den Pflegekassen sowie dem Ministerium zugeleitet.

Das Projekt hatte „erkundenden“ Charakter.
Ziele waren:
- Eröffnung von Zugangswegen zu den älteren Migrantinnen und Migranten,
- Aufbau von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten für Migrantinnen und Migranten mit Demenz und kultursensibel ausgerichtete Unterstützung,
- Entwicklung von Handlungsempfehlungen für andere Anbieter von niedrigschwelligen Betreuungsleistungen auch über Hannover hinaus.

2. Ausgangslage
Legt man die Bevölkerungsdaten für Hannover zugrunde sowie das Risiko für bestimmte Lebensalter, an Demenz zu erkranken, konnte man zu Beginn des Projektes von ca. 600 demenzerkrankten Migrantinnen und Migranten in Hannover ausgehen, ohne dass diese Personen irgendwie bemerkbar gewesen wären.
Die pflegenden und betreuenden Angehörigen sind hohen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Zum Zeitpunkt des Starts des Projekts gab es für diese Menschen in der Landeshauptstadt Hannover keine speziellen Angebote. Aufgabe des Projektes war es daher, die Versorgungssituation von Menschen mit Demenz anderer Kultur und Sprache besonders in den Fokus zu nehmen.
Die Demenz führt im Laufe der Erkrankung zu einem fortschreitenden Abbau der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit. Der / die demenziell Erkrankte verliert erlernte Fähigkeiten und die Ursprungssprache und –kultur wird wieder bestimmend. Die erlernten deutschen Sprachkenntnisse gehen verloren. Will man Betroffene mit einem niedrigschwelligen Betreuungsangebot erreichen, braucht es kultursensible Zugänge, die sowohl die sprachlichen als auch die kulturellen Hintergründe berücksichtigen.

Es war daher eine Leitfrage des Projektes, zu erkunden, wie kultursensible, muttersprachliche Hilfen aussehen können.

3. Umsetzung
Die Projektdurchführung fokussierte sich auf Migrantinnen und Migranten aus dem türkischen und aus dem russischsprachigen Raum als den beiden größten Migrantengruppen im Stadtgebiet.
Als wesentlicher Zugang zu den Migrantinnen und Migranten für den Aufbau und die Implementierung nachhaltiger Angebote erwies sich die Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Migrantenselbstorganisationen. Diese verfügen häufig über die Zugänge zu denjenigen Familien, die über ein Angebot der Mehrheitsgesellschaft nicht erreicht werden. Der Aufbau von Vertrauen zu den Schlüsselpersonen in den Migrantenvereinen und der muttersprachliche Zugang erwiesen sich als eine wichtige Voraussetzung, um die Zielgruppe zu erreichen. Die „Mundpropaganda“ war das wichtigste Mittel, um die neuen Angebote über muttersprachliche Multiplikatorinnen innerhalb der Zielgruppe bekannt zu machen.
Das Modellprojekt wurde an zahlreichen weiteren Stellen, die an der Schnittstelle von Senioren-, Migranten- und Gesundheitsberatung tätig sind, bekannt gemacht, z.B. in den Netzwerken für Senioren in den Stadtbezirken, bei den Migrationsberatungen der Kommune oder der Wohlfahrtsorganisationen, bei den ambulanten Pflegedienste, den Pflegestützpunkten, den Pflegekassen und den Integrationslotsen.
Dabei wurden mit dem Ziel, über das Krankheitsbild Demenz aufzuklären und mögliche Hilfen aufzuzeigen, im Rahmen des Projekts an den unterschiedlichsten Orten ca. 80 Informationsveranstaltungen durchgeführt.

Die niedrigschwelligen Betreuungsangebote bilden einen zentralen Baustein im Hilfenetzwerk der pflegenden Angehörigen. Ziel dieser Betreuungsangebote ist es,
- den Angehörigen einen verlässlichen Freiraum zur Entlastung zu verschaffen,
- dies führt zum Erleben situativer Erleichterung, zu emotionaler Entlastung, zur Nutzung der zeitlichen Freiräume und damit zu einer stabilisierten Beziehung zu den Betroffenen,
- die wiederum die Aufrechthaltung der Versorgung des Erkrankten in der
Häuslichkeit fördert und ermöglicht.
Die inhaltlichen Angebote richteten sich nach den Bedürfnissen der Erkrankten.
Als Hilfen wurden verlässliche Begleitung und Gesellschaft für einen verabredeten Zeitraum von ca. 2 – 3 Stunden angeboten.
Im Laufe des dreijährigen Projektes waren fünf Helferinnen in der ehrenamtlichen Betreuung von Demenzerkrankten tätig. Insgesamt sechs Einsätze von ehrenamtlichen Helferinnen in der Häuslichkeit sind zu Stande gekommen, davon vier türkisch- und zwei russischsprachige. Der Aufbau eines Gruppenangebots konnte angebahnt werden.
Die HelferInnen übernahmen es, mit den Erkrankten zu backen und zu kochen, mit ihnen Tee zu trinken oder spazieren zu gehen. Wenn die Erkrankten noch verbal kommunizieren konnten, wurde diese Fähigkeit für biografische Gespräche genutzt.

Resümierend lässt sich ein insgesamt hoher Beratungsbedarf zum Thema Gesundheit und Pflege konstatieren.
Das niedrigschwellige Angebot für Migrantinnen und Migranten war neu. Aber auch weil in den Ursprungskulturen das Krankheitsbild Demenz häufig tabuisiert wird (sowie aufgrund weiterer Faktoren), gestaltete es sich für Migrantinnen und Migranten schwierig, einen Zugang zu diesen Angeboten zu finden.
Nach Abschluss des Projektes werden die Einsätze von ehrenamtlichen Helferinnen in der Häuslichkeit von demenzerkrankten Migrantinnen und Migranten durch das Kompetenzzentrum Demenz im Heinemanhof fortgeführt. In Kooperation mit der Alzheimer-Gesellschaft werden die niedrigschwelligen Betreuungsangebote für türkischsprachige Migrantinnen und Migranten fortgeführt.

4. Handlungsempfehlungen
Zum Abschluss des Projekts wurden Handlungsempfehlungen für ein mögliches flächendeckendes Angebot entwickelt:
· Der persönliche Kontakt mit Migrantengruppen und damit die Herstellung einer Vertrauensbasis sollten im Vordergrund stehen. Aufsuchende, zugehende, quartiersbezogene Zugänge sind für einen frühzeitigen Vertrauensaufbau erfolgversprechend. Um die Barrieren zu überwinden, sollte in den Communities Kontakt zu Multiplikatoren, Vereinen, Organisationen und Ansprechpartnern aufgebaut werden, die helfen können, Brücken zu bauen. Die hohe Bedeutung informeller Kontakte ist zu beachten.
· Für die türkischsprachigen MigrantInnen gilt im Wesentlichen, dass ein Zugang für direkte Hilfeleistungen nur über die Familien möglich ist. Hier ist zu empfehlen, Familienangehörige zu stärken und mit dem Thema Demenz so vertraut zu machen, dass sie selbst die nötige Pflege und Betreuung ihrer Angehörigen übernehmen können.
· Angebote müssen die pflegenden Angehörigen in einer frühen Phase der demenziellen Veränderung erreichen. Aussagen aus den Interviews zeigen, dass in einer Phase, in der demenziell Erkrankte Schwierigkeiten haben, Personen wieder zu erkennen oder aggressives Verhalten bzw. Ängste auftreten, die pflegenden Angehörigen die demenziell Erkrankten vor weiteren Belastungen durch die
Betreuung in einem niedrigschwelligen Angebot schützen wollen. Deshalb ist es empfehlenswert, in den Communities Anlaufpunkte einzurichten, die Pflege zunächst nicht als Belastungsdiskurs thematisieren. Der Ressourcendiskurs sollte im Mittelpunkt stehen und allgemeine gesundheitsförderliche Themenangebote
vorgehalten werden. Die Beratung sollte sich nicht nur auf das Themenfeld Demenz beschränken.
· Alle Angebote der niedrigschwelligen Betreuung sollten muttersprachlich ausgerichtet sein, da an Demenz erkrankte MigrantInnen die oft erst später erlernte deutsche Sprache schnell verlieren.
· Für den Aufbau einer Betreuungsgruppe reicht die gemeinsame (Fremd-)Sprache als Basis für eine funktionierende Gruppe nicht aus. Für eine gut geplante Zusammensetzung von Betroffenen und Ehrenamtlichen sollte die Biografiearbeit genutzt werden, um den jeweiligen kulturellen Hintergrund mit zu erfassen.
· Pflegestützpunkte und sonstige Beratungsstellen sind konsequent interkulturell zu öffnen, d.h. insbesondere, dass sie muttersprachliche Beratungen und muttersprachliches Informationsmaterial anbieten sollten.
· Auch Migrantinnen und Migranten, die keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung haben und von der Grundsicherung leben, sollte ein unbürokratischer Zugang zu niedrigschwelligen Angeboten ermöglicht werden.
· Aus den Interviews mit den pflegenden Angehörigen lässt sich die Empfehlung ableiten, dass eine wirkliche Entlastung ganztägig organisiert werden sollte, da die derzeit vorhandenen Tagespflegeangebote die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten nicht ausreichend berücksichtigen würden.

Die Laufzeit des „erkundenden“ Projekts hat erhebliche Anstöße für die weiterführende Netzwerkarbeit ermöglicht.
Eine erfolgreiche Weiterführung verlangt neben weiterer Forschung insbesondere bei angestrebter quartiersgebundener und fallspezifischer Entwicklung von Angeboten die konsequente interkulturelle Öffnung aller im System tätigen Akteure. Als langfristiges Ziel ist die quartiersgebundene Bürgergemeinschaft mit einem Hilfemix aus Ehrenamtlichen, Professionellen und Angehörigen für gemeinsam zu entwickelnde Konzepte anzusteuern.

Berücksichtigung von Gender-Aspekten

Das Projekt machte deutlich, dass der Bereich Pflege und Betreuung auch in den Communities der Migrantinnen und Migranten aus dem türkischen und aus dem russischsprachigen Raum weiblich besetzt ist. Der weit überwiegende Teil der zu Betreuenden als auch der Betreuten waren Frauen. Alle 19 Teilnehmenden der während des Projektes durchgeführten Demenzhelferschulungen waren Frauen.
Ein Ergebnis des Projektes ist, dass bei allen Beratungen und Angeboten geschlechtersensibel vorgegangen werden sollte. Besuchsdienste im Rahmen der niedrigschwelligen Betreuungsangebote durch Demenzhelfer gelingen nur unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Grenzen.

Kostentabelle

Die Gesamteinnahmen und -ausgaben des Projekts sind unter Ziffer 1 dargestellt.

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Hannover / 29.04.2014